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Immer mehr Staaten übernehmen das Statement der WHO, jeder Tropfen Alkohol sei schädlich. Doch die Empfehlungen werden inzwischen scharf kritisiert. Denn einige der Wissenschaftler stehen der Abstinenz-Bewegung Movendi sehr nahe. 

Im August 2024 hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) in einem Positionspapier ausdrücklich empfohlen: „Am besten null Alkohol.“ Daten aus Studien zeigten, dass es keine risikofreie Menge für unbedenklichen Alkoholkonsum gäbe. Auch geringe Mengen könnten das Risiko für Krankheiten erhöhen und damit die Gesundheit gefährden: „Die DGE empfiehlt daher, auf alkoholische Getränke zu verzichten.“ Damit übernimmt sie die Position der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die schon seit einiger Zeit formuliert: „Es gibt keine gesundheitlich unbedenkliche Menge des Alkoholkonsums."

Zwei der Protagonisten, die jede Form und Menge von Alkohol als schädlich ansehen und diese Ansicht in renommierten Fachpublikationen veröffentlichen, sind die kanadischen Wissenschaftler Dr. Tim Stockwell und Dr. Tim Naimi. Stockwell hat in Psychologie promoviert und war von 2004 bis 2010 Direktor des Canadian Institute for Substance Use Research. Der Medizinier Naimi wurde dort sein Nachfolger. Beide beschäftigen sich ihr gesamtes Berufsleben lang mit der Abhängigkeit von Drogen sowie Alkohol sowie deren gesundheitlichen Auswirkungen. Beide leiten Expertengremien, die auch die kanadische, die US-amerikanische Regierung und die WHO beraten. Vor kurzem veröffentlichte Stockwell eine oft zitierte Studie, nach der es „kein sicheres Maß an Alkoholkonsum“ gebe. Auf diese Veröffentlichung stützen sich auch die WHO und die DGE.

 

Rosinenpicker

Naimis und Stockwells Arbeiten und ihre Empfehlungen werden inzwischen von vielen Wissenschaftlern stark in Zweifel gezogen (wein.plus berichtete). Gesundheitsbehörden in den USA und Kanada lehnten Naimis Empfehlungen zum Alkoholkonsum für Erwachsene ab. Mitglieder des US-Kongresses kritisierten in einem Brief an das National Institute of Health (NIH), dass er „Forschungsprotokolle nicht eingehalten" habe. Stockwells Arbeit wird aber auch von anderen Forschern kritisch hinterfragt. Es handle sich bei seinen Statements nicht um gesicherte Wissenschaft, so der Vorwurf. Vielmehr picke sich Stockwell nur einzelne Aspekte heraus, die seine Agenda unterstützten, sagte der ehemalige britische Regierungswissenschaftler Richard Harding in einem Interview mit der britischen Zeitung The Telegraph: „Dr. Stockwells Forschungskompetenz ist im Wesentlichen die Epidemiologie, also die Untersuchung von Bevölkerungen. Man zeichnet den Lebensstil der Menschen auf, sieht, welche Krankheiten sie bekommen und versucht, die Krankheit mit Aspekten ihres Lebensstils zu korrelieren. Aber das ist nur eine Korrelation, eine Assoziation. Epidemiologie allein kann niemals Kausalität feststellen. Und in diesem speziellen Fall hat Dr. Stockwell sechs aus 107 Studien ausgewählt, auf die er sich konzentriert hat. Man könnte sagen, er hat sie herausgepickt.“

Diesem Vorwurf muss sich auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung auseinandersetzen: So entgegnet ihrer Empfehlung die Deutsche Weinakademie, die zum "Wine in Moderation"-Netzwerk gehört: "Die Empfehlungen sind aus reinen Beobachtungsstudien (Kohortenstudien) abgeleitet, die prinzipiell keine kausalen Zusammenhänge belegen können, sondern Korrelationen, also das statistische Zusammentreffen von Beobachtungen zeigen." Darauf weist die DGE selbst sogar in ihrem aktuellen Positionspapier hin: 'Die Aussagekraft von Metaanalysen von Kohortenstudien zur Beziehung zwischen Alkoholkonsum und Gesamtmortalität ist durch methodische Schwierigkeiten stark limitiert (...). Die Schätzungen des alkoholbedingten Sterberisikos variieren je nach Studiendesign zudem erheblich und sind somit schwierig zu interpretieren.'"  

Dr. Tim Naimis Empfehlungen wurden in Kanada und den USA nicht angenommen.

Boston University

So liegt es nahe, dass Stockwell und Naimi womöglich eine eigene Agenda verfolgen. Beide haben nachgewiesene Verbindungen zu Movendi International. 1851 in den USA als „International Order of Good Templars“ („Guttempler”) gegründet, war das ursprünglich eine Abstinenz- und Temperenz-Organisation, die sich gegen Alkoholkonsum und für die Förderung eines alkoholfreien Lebensstils einsetzte. Im Jahr 2012 wurde der Name in “Movendi International” geändert, um die moderne Ausrichtung und die breitere Mission der Organisation für Gesundheit und soziale Gerechtigkeit widerzuspiegeln.

Heute ist Movendi laut eigenen Worten die „weltweit größte soziale Bewegung für Entwicklung durch Alkoholprävention. Unsere Vision ist ein Leben für alle Menschen, in dem sie ihr volles Potenzial ausschöpfen können und das frei von Schäden ist, die durch Alkohol und andere Drogen verursacht werden.“ Diese Nicht-Regierungssorganisation (NGO) ist offizieller Partner der WHO und des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP). Movendis Ziel ist es, „Einfluss auf die Politik nehmen zu können (...), um sie für die vielfältigen Wechselwirkungen von geschlechtsspezifischer Gewalt, schädlichem Alkoholkonsum sowie HIV und Tuberkulose zu sensibilisieren und (...) die Gesundheitspolitik zu stärken.“

In Deutschland ist der Verein der Guttempler Teil von Movendi International und Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband sowie der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Auch die Guttempler setzen sich „friedlich für eine Welt ein, in der sich Menschen ohne Beeinträchtigung durch Alkohol und andere Drogen entwickeln und in Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Gesundheit leben können“, denn: „Alkohol ist ein ernsthaftes Entwicklungshindernis auf persönlicher, gemeinschaftlicher, gesellschaftlicher und globaler Ebene."

 

WHO, EU und die Abstinenz-Bewegungen

Tim Stockwell ist schon lange ein wichtiger Berater der WHO. Er hat an mehreren Initiativen mitgewirkt, darunter der Erarbeitung von Berichten, Leitlinien und politischen Empfehlungen, die die Alkoholpolitik global beeinflussen. Er hat aber auch sehr enge Verbindungen zu Organisationen wie Eurocare, deren Ziel die „Verhinderung und Verringerung alkoholbedingter Schäden im Rahmen europäischer politischer Entscheidungen über Alkohol“ ist. Diese „European Alcohol Policy Alliance“ ist ein Bündnis von NGO’s, die laut eigenen Angaben mit der EU-Kommission, dem Europäischen Parlament, der OECD und der WHO zusammenarbeitet. Dr. Stockwell gehört deren Expertenkomitee an. Eurocare leitete auch mehrere von der EU finanzierte Projekte – und erhält Geld von den Guttemplern.

Dr. Tim Stockwell propagiert “Null Alkohol”. Doch seine Forschungsmethoden sind für viele Wissenschaftler umstritten.

UVic

Weiter war Stockwell von 2005 bis 2007 Präsident der „Kettil Bruun Society“, einem Think Tank, der aus den internationalen Abstinenzkongressen hervorgegangen ist. Deren Jahreskonferenz 2023 in Johannesburg wurde von Movendi gefördert. Für die australische Organisation “The Foundation for Alcohol Research and Education” (FARE) hat er einen offenen Brief unterzeichnet, der fordert, die WHO dürfe nicht mehr mit Alkohol-Lobbyisten sprechen.

Auch auf Spotify ist Stockwell zu hören: Auf dem Podcast von „Tribe Sober“, einer Vereinigung für ehemalige Alkoholiker, die Restriktionen befürwortet (Motto: „Inspiring an alcohol-free life") wird er in einer Folge als „Mann mit einer Mission, für die er seit Jahren kämpft” vorgestellt. Er sowie Tim Naimi waren zudem Interview-Partner in einem offiziellen Podcast von Movendi. Gemeinsam haben die beiden zudem 2016 einen Aufsatz für die Guttempler-Organisation geschrieben. All diese Verbindungen finden sich auf den Websites der Organisationen und Universitäten, für die Stockwell und Naimi tätig waren und sind. Beide werden für Ihre Vorträge und Beiträge von den Abstinenzbewegungen entschädigt, was Stockwell auch nicht bestreitet: „Ich habe an einem von der schwedischen Abstinenz-Organisation finanzierten Treffen teilgenommen und Material verfasst, das sie veröffentlicht haben. Ich hatte Verbindungen zum Internationalen Orden der Guttempler. Ich habe einige ihrer Treffen besucht, bin aber kein Mitglied.“

 

Wo das Geld ist

Viele Wissenschaftler lehnen zudem Stockwells und Naimis Motive und Ansätze ab. Sie kritisieren die beiden als Protagonisten einer weltweiten Abstinenzbewegung, die seit Jahren daran arbeitet, Alkohol weltweit aus der Gesellschaft zu verbannen. Stockwell sagt dazu im Interview mit The Telegraph, seine Verbindungen zu Abstinenz-Organisationen seien nur „flüchtig“. Er wirft dagegen seinen Kritikern vor, „von der Alkohollobby finanziert zu werden und davon zu leben, die Beziehung zwischen Alkohol und Gesundheit positiv darzustellen”.

Anti-Alkohol-Bewegungen versuchen, die Politik zu beeinflussen.

Facebook/MovendiInt

Christopher Snowdon, Leiter des Bereichs „Lifestyle Economics“ am Thinktank „Institute of Economic Affairs“ (IEA) in Großbritannien und Autor, erklärt dazu: „Dr. Stockwell hat meines Wissens niemals eigene Primärforschung zu diesem Thema durchgeführt. Er erarbeitet immer wieder systematische Übersichten mit dem Ziel, die Vorteile mäßigen Trinkens zu verschleiern. Er und seine Kollegen überarbeiteten jahrzehntelange wissenschaftliche Beweise, die gesundheitliche Vorteile von Alkohol unterstützten.“ Snowdon schreibt dazu auf seinem Blog „Velvet glove, iron fist“: „Stockwells Herangehensweise an Alkoholthemen ist erfrischend einfach. Wenn er will, dass etwas wahr ist, sagt er, dass es wahr ist – unabhängig davon, was die Beweise sagen. Da die meisten Journalisten die Beweise nicht kennen und jedem vertrauen, der klingt, als wäre er ein Arzt (Stockwell hat einen Abschluss in Psychologie und Philosophie), ist dies effektiver, als Sie vielleicht denken.“

Der Spezialist für Alkoholpolitik an der Brock University in Ontario, Dr. Dan Malleck, erklärte dazu dem Telegraph: „Warum untersucht man den Schaden, den Alkoholkonsum auch anrichten kann? Weil dort das Geld ist. Das meiste Budget stammt aus staatlicher Finanzierung, und Regierungen sind mehr daran interessiert, ihre Bürger zu schützen, als sie zu ermutigen, sich zu amüsieren. Also haben Leute wie Stockwell und Naimi die Erforschung von Schäden verdoppelt, weil dort das Geld ist.“

 

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