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Wirtschaftliche und familiäre Probleme sowie Überlastung führen Winzer immer öfter in eine Abwärtsspirale bis zum Burnout – oder Suizid. Wie psychologische Krisen-Hotlines schnell und anonym helfen, berichtet Kristine Bäder.

„Es sind nicht die Trauben oder die Reben, die die Winzer überfordern, es ist das ganze Drumherum", sagt Sascha Müller. Der Pfarrer arbeitet in der Landwirtschaftlichen Familienberatung der Kirchen in Kaiserslautern und berät – gemeinsam mit einem Kollegen – Winzer sowie Landwirte in seelisch herausfordernden Situationen. Er erlebt immer öfter, dass vor allem die überbordende Bürokratie, die ständig neuen Anforderungen und Vorschriften seinen Gesprächspartnern zusetzen. Kommen noch fehlender Umsatz, zu wenig Personal oder familiäre Schwierigkeiten hinzu, sind irgendwann die Grenzen erreicht. Für die Betroffenen beginnt eine Abwärtsspirale, die oft in den Burnout, die Depression und im schlimmsten Fall in den Suizid führt.

Vor allem im Weinbau und der Landwirtschaft sind seelische Erkrankungen auffallend häufig. Das belegen eindeutige Zahlen: 27 Prozent der Winzer und Landwirte sind von Burnout betroffen, das sind 4,5-mal mehr als im Rest der deutschen Bevölkerung, belegt ein Bericht des Südwestrundfunks (SWR). Ähnlich sieht es bei Depressionen aus: Mit 24 Prozent sind die Betroffenen unter Winzern und Landwirten dreimal höher als beim Rest der Bevölkerung. Laut der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) sind psychische Erkrankungen bereits die zweithäufigste Ursache für Erwerbsminderungsrenten in der Branche.

Erste Hilfe für Winzer in Krisensituationen am Telefon gibt es bei mehreren Einrichtungen wie dem der Landwirtschaftlichen Familienberatung der Kirchen. „Unser Angebot gibt es schon seit 1998“, berichtet der Pfarrer. In den Gemeinden fühlten sich die Pfarrer überfordert, wenn sich Winzer und Landwirte mit Problemen zwischen Familie und Betrieb an sie wenden. „Daraus entstand zunächst das Angebot ‘Kirche und Dorf’ und später in Zusammenarbeit mit dem Bauern- und Winzerverband das heutige Beratungsangebot“, erzählt Sascha Müller.

Deutlich mehr Suizide als in anderen Berufsgruppen

Eine telefonische Krisenberatung hat 2018 auch die Sozialversicherung mit dem Anbieter IVP (Integrierte Versorgungsprogramme) in Hamburg eingerichtet. Carola Benn, die dortige Leiterin der landwirtschaftlichen Krisenhotline, bestätigt die Zahlen des SWR: „Bei Landwirten und Winzern gibt es signifikant mehr Suizide als in anderen Berufsgruppen.“ Ihrer Einschätzung nach sind die Gründe dafür fehlende Hilfsangebote – und eine große Hemmschwelle der Betroffenen, überhaupt Hilfe in Anspruch zu nehmen. „Vor allem in den grünen Berufen ist seelische Gesundheit noch mehr mit Tabus behaftet als in anderen Berufsgruppen“, weiß auch Stefan Adelsberger von der Stabsstelle Gesundheitsangebote der SVLFG. Anonyme und niedrigschwellige Angebote sind daher für sie besonders wichtig. Knapp 20 Psychologinnen und Psychologen sind in der Krisenhotline für Winzer und Landwirte tätig.

Bei Sascha Müller kommen etwa die Hälfte der Anrufer aus dem Weinbau, doch deren Probleme unterscheiden sich kaum von denen anderer landwirtschaftlicher Berufe: „Burnout und Erschöpfungsdepression, Schlafstörung, Zukunftsangst, Lustlosigkeit“, beschreibt Carola Benn, was die Anrufer belastet. Die Verbindung von Privatem und Beruflichem, wenn man zusammenlebt und arbeitet, viel zu wenig Urlaub, der Mangel an Arbeitskräften – all das komme häufig zusammen. „In den Familienbeziehungen geht es oft um fehlende Kommunikation und Wertschätzung“, erlebt Carola Benn die Probleme der Hilfesuchenden. Sie berichtet von einem Winzer, bei dem nach einem Arbeitsunfall das Sehen deutlich eingeschränkt war. Doch er nahm keine Hilfe in Anspruch. Seine Ehefrau versuchte, die Verantwortung zu übernehmen. Doch das führte bei beiden zur Überlastung. „Im Weinbau und der Landwirtschaft stemmen Frauen oft die Doppelbelastung von Arbeit im Betrieb, in Familie und Erziehung sowie dem Umfeld, während sich der Mann auf die Arbeit konzentriert.“ Alte und neue Rollenbilder stoßen aufeinander – und funktionieren nicht mehr: beispielsweise, wenn Ehefrauen nicht in den Betrieb einsteigen und ihr Geld woanders verdienen. Oder weil die Vorstellung von einem Acht-Stunden-Arbeitstag des Partners in der Realität eines Weinguts einfach nicht funktioniert.

„Winzer kann man nicht sechs Wochen krankschreiben“

Diese Arbeitsrealität ist auch ein Grund, warum Interventionen, die in anderen Berufsgruppen akut helfen können, für Winzer keine Option sind. „Einen Winzer kann man nicht mal eben vier oder sechs Wochen krankschreiben“, sagt Sascha Müller. „Auch ein Kontaktabbruch oder eine Trennung bei familiären Problemen hat in diesen Berufen eine ganz andere Dimension. Berufliches und Privates sind einfach viel enger verwoben“, ergänzt Carola Benn.

Schwierige Beziehungen, beispielsweise zwischen den Generationen oder in der Partnerschaft, gehören zu den Auslösern, sich Hilfe von außen zu holen. „Kontroversen mit Schwiegereltern drehen sich oft um Zuständigkeiten und Kompetenzen“, weiß Stefan Adelsberger. Im konkreten Kontext lässt sich oft nicht trennen, ob Vater und Kind oder Seniorchef und Juniorchef miteinander sprechen. Bei Betriebsübergaben brechen solche Spannungen auf, Generationenkonflikte sorgen für hohe psychische Belastung – die zu den üblichen Anforderungen hinzukommt.

Zu diesen Problemfeldern müssen sich Winzer mit Wetterextremen und daraus folgenden Schäden, der ökonomischen Krise der Weinbranche, Preisdruck und der gesellschaftlichen Wahrnehmung auseinandersetzen. „Die Stimmung in der Gesellschaft geht den Menschen sehr unter die Haut. Sie trifft den Selbstwert und die eigene Wertschätzung“, erlebt Carola Benn die Wahrnehmung ihrer Anrufer. Wie weit solche gesellschaftliche Ausgrenzungen gehen können, beschreibt ein Bericht der Allgemeinen Zeitung in Mainz: „Mein Sohn wurde in der Schule wegen des Berufs seines Vaters gemobbt“, erzählt darin ein von Depression und Burnout betroffener Winzer. Das Mobbing führte zu einem Selbstmordversuch des Jugendlichen. Er überlebte nur knapp. Für den erschütterten Vater ein Beispiel für die gesellschaftlichen Vorurteile ist das Thema Pflanzenschutz. „Die spritzen alles kaputt, heißt es immer“, wird er zitiert, „das nimmt mich mit, dass man immer so am Pranger steht.“

Viele Anrufe aus dem Weinberg oder vom Traktor

In jüngster Zeit hat die Berichterstattung über die Belastungen in grünen Berufen wie dem Weinbau deutlich zugenommen. Das macht sich bei den Hilfsangeboten bemerkbar: Viele Krisentelefome werden zwar noch „heimlich“ vom Traktor aus oder im Weinberg angerufen. Doch es wächst die Bereitschaft, sich Hilfe zu holen. „Nach Berichten in den Medien zum Thema steigen die Anruferzahlen“, berichtet Stefan Adelsberger. „Früher haben klassisch eher Frauen angerufen, inzwischen sind es zu 50 Prozent Männer. Sie haben erkannt, dass Beratung nichts Schlechtes ist, dass man sich Kompetenz herbeirufen kann“, hat auch Sascha Müller beobachtet. „Psychische Belastungen sind heute weniger stigmatisiert“, macht Carola Benn ähnliche Erfahrungen. Besonders viele Anrufe kommen nach Arbeitsspitzen wie der Erntezeit oder rund um die Weihnachtszeit, wenn die Arbeitsbelastung weniger wird und die Familie ungewohnt viel Zeit miteinander verbringt.

Richtig schwierig wird es, wenn Winzer ein Alkoholproblem haben. „Wir arbeiten auch mit Ansätzen wie kontrolliertem Trinken“, erklärt Sascha Müller seinen Ansatz. Das ist aber nicht nur für die Betroffenen herausfordernd, sondern auch für den Pfarrer. Nicht immer gelingt es, eine gute Lösung zu finden. Wenn Telefonate oder die angebotenen Gespräche nicht ausreichen oder eine ernsthafte Krise vorliegt, helfen die Psychologen, eine therapeutische Anlaufstelle zu finden.

Hilfsangebote für Winzerinnen und Winzer in Deutschland

Telefonseelsorge der Deutschen Depressionshilfe
Tel. 0800 - 1110111 und 0800 - 1110222

Akute Krisenhotline der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau
Tel. 0561 785 - 10101

Landwirtschaftliche Familienberatung der Kirchen in Rheinhessen und der Pfalz
Tel. 0561 – 9378159-0

Sorgentelefon für bäuerliche Familien im Rheinland Ev. Landjugendakademie
Tel. 02681-9516-12

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