Nach der überbordenden Hochsaison zwischen Karneval und Biennale zeigt sich Venedig in der vierten Jahreszeit ungeschminkt und gelassen. Das milchige Winterlicht liegt mit der Restwärme des Spätherbstes auf den monochromen Steinen der Brücken und den hell erleuchteten Palazzi. Bereits am frühen Mittag kann man es den Einheimischen gleichtun und seine erste Schattenwein-Runde in den Bàcari drehen. Sie sind die Osterien von Venedig. „Andare per ombre“ gehört zu den venezianischen Alltagsritualen rund um „bere e mangiare“ (Trinken und Essen) – ebenso wie der milde caffè in einer Pasticceria am frühen Morgen.
Von den umtriebigen Plätzen folgt man den Veneziani in die labyrinthischen Gassen, Brücken und Kanäle der Lagunenstadt. Bevor sie die frühabendlichen Alltags-Besorgungen mit ihren „carelli“ (Handkarren) nach Hause bringen, machen sie oft noch einen Abstecher in eine der „Bàcari“ im Halbschatten der hinteren Häuserreihen. Die meisten kleinen Weinschänken liegen in den steinernen Falten der Stadt und sind für Fremde nicht einfach zu finden. Doch schon mittags herrscht dort reger Betrieb.
Vor allem im Winter treffen sich dort die Einheimischen und genießen ihre „cultura dell'ombra“, um unter sich zu sein. Die von Schummerlicht bestrahlten, charmanten Weinkaschemmen sind einfach eingerichtet und vollgestopft mit Wein-Reliquien. Die mit warmtönigem Holz verkleideten und mit Weinetiketten tapezierten Wände sind vollgestellt mit Kupferkesseln, Wandtellern oder leuchtenden Madonnen in Minischreinen. Manche Flaschen kühlen in den Außenfenstern auf den Steinsimsen.
Man begegnet Baristi wie Eduardo Barolo im Bàcaro „Un Mondo diVino“, der ein Tattoo mit Reben und einem Glas Vino Rosso auf dem Unterarm trägt.
Selbst bei „Acqua Alta“ – dem regelmäßigen Hochwasser – besuchen die Einheimischen in Gummistiefeln ihre Stammbars. Auf handgemalten Weinkarten – mal auf neongrüner Pappe, mal auf floral illustrierter Schiefertafel – steht ein wilder Mix der regionalen und internationalen Weine.
Zum Ombra – dem einfachen, ehrlichen „Schattenwein“ – gibt es ein kaltes oder warmes Cicchetto auf die Hand. In den mundgerechten, zwei Happen großen, venezianischen Tapas spiegelt sich die gesamte Geschmacks-Topografie des Veneto, der Region rund um die Lagune. Die kleinen Zungenschnalzer isst man mit seinem „piccolo bicchiere di vino“ – streng von den Einheimischen beäugt, ausschließlich „al banco“ (stehend) am Tresen und vorzugsweise zur Mittagszeit oder später zur Blauen Stunde.
Oftmals gibt es in den kleinen Weinschänken lediglich zehn Stehplätze. Man steht dicht beieinander, um sich über Tagesaktuelles auszutauschen. Vom Gondoliere bis zum Müllmann, vom Palazzo-Besitzer bis zur älteren Dame mit grellroten Lippen aus der Nachbarschaft ist alles vertreten. Hier trifft kleiner Wein auf kleinen Schwatz und bestimmt die soziale Schattierung. Nicht ohne Grund leitet sich der Bàcaro vom Namen des Weingottes Bacchus ab. Auch einen Spritz Rosso, Bianco oder Rosato, die Weinschorle, gibt es als Light-Version im Ombra-Format.
Leichte Weine sind gefragt. Die Zeiten der sehr einfachen Arme-Leute-Weine von minderer Qualität sind vorbei. Nur der günstige Preis hat immer noch Tradition und liegt manchmal sogar noch unter einem Euro. „Un’ombra“ bedeutet im Italienischen auch „eine kleine Menge“. So trinkt man ausschließlich aus winzigen 0,1-l-Gläsern. Wenn es noch weniger ist, sprechen die Venezianer von einer „ombretta“, einem „Schattenchen“. An die 50.000 Gläschen sollen in Venedig täglich über die Tresen gehen. Nur wer darauf besteht, bekommt den Wein in ein hochwandiges Glas eingeschenkt. Zur Herkunft dieser Weintradition erzählt man in Venedig die Geschichte, apulische Weinhändler hätten zur Mitte des 19. Jahrhunderts einfachen Fasswein über die Riva degli Schiavoni eingeschifft. Der wurde statt des teuren griechischen Weins auf der Piazza San Marco für wenig Geld ausgeschenkt. Um den Wein kühl zu halten, wanderten die commercianti di vino einfach mit dem Schatten des Campanile-Turms. Im Kühlen trank sich der Ombra nun mal angenehmer. Als später die festen, einfachen Bàcari öffneten, wurden sie vielen Menschen zu einer zweiten, warmen Wohnstube – kleine soziale Auffangstätten für die Sorgen und Nöte der Menschen in kargen Zeiten. Die namensgebende Metapher hält sich bis heute im Glas.
Regionale Rebsorten haben längst die apulischen Trauben ersetzt. Die meisten der heute „guten Tropfen für jeden Gusto“ stammen aus dem 75.000 Hektar großen venezianischen Hinterland oder dem nahe gelegenen Friaul-Julisch-Venetien mit seinen saftig-strukturierten Weißweinen. Ausgeschenkt werden der Manzoni (Kreuzung aus Riesling und Pinot Blanc), aber auch Gewürztraminer, Müller-Thurgau, Lugana DOC oder Rebsorten wie Friulano, Pinot Grigio, Pinot Bianco oder Sauvignon Blanc.
Perfekte Ombra-Rotweine sind die unbeschwert fruchtigen Bardolino Classico und die jungen Novello (Rebsorten: Corvina, Rondinella, Molinara), dazu gibt’s häufig Merlot, Pinot Noir und Refosco. Das Pendant mit den gleichen Trauben wie der Bardolino ist der Valpolicella – in seiner von Leichtigkeit geprägten Charakteristik ein beliebter Ombra. Barolo und Brunello fließen hier nur selten ins Glas, sie werden meist nur am Abend ausgeschenkt. Auch Cabernet, Friulano oder Verduzzo landen hier neben internationalen Sorten im kleinen Glas.
Cicchetto (cicchetti oder auch cichetti, cichete) werden mancherorts als älteste Street-Food-Kultur gehypt und ersetzen oft das Mittagessen. Auch hier steckt die „kleine Menge“ bereits im Wort. Kleine Sandwiches, goldgelbe Polenta-Rauten oder „fondi di carciofi“ (gebratene Artischockenböden) tragen die Häppchen in den wie Altäre ausgeleuchteten Glasvitrinen. Mit den Fingern nascht man die bunt drapierten oder mit Zahnstochern zusammen gehaltenen Cichetti mit frittierten Oliven oder Kürbisblüten „fior di zucca“, mariniertem Gemüse und lokalen Käsesorten wie den „mozzarella in carrozza“. Den gebackenen Filata gibt es wahlweise mit oder ohne Schinkenfüllung. Fisch und Meeresfrüchte sind die Hauptdarsteller: Der „Baccalà Mantecato“, eine Stockfisch-Paste, sitzt als cremiger Schmelz auf knusprigem Brot oder Polenta. „Sarde in Saòr“ – mit Zwiebeln, Olivenöl, Essig, Lorbeerblättern, Rosinen und Pinienkernen eingelegte Sardinen liegen gleich neben den „Polpette“. Die kleinen Bällchen aus Fleisch, Fisch oder Gemüse schiebt man sich mit zwei Fingern flink in den Mund. Der Ombra begleitet den Genuss – Schlückchen für Schlückchen für Schlückchen…
Um die meist gut versteckten Schattenbars in den sechs Stadtbezirken Venedigs besser zu finden, haben wir die besten von ihnen zusammengetragen. Mit jedem noch so kleinen Schluck hält man diese Tradition lebendig. Anke Sademann sowie die Fotografin Anja Hendrischk stellen hier ihre ganz persönlichen Tipps vor. Sie sind weder von Tourismus-Unternehmen noch Verbänden finanziert worden. Auch enthalten sie keinerlei Affiliate-Links oder sonstiges Product Placement.
Im Cannaregio-Quartier: früher eine Metzgerei, jetzt „eine göttliche Welt“ und zugleich „die Welt des Weins“. Warme Atmosphäre und sehr kundige, gut gelaunte Bariste!
Salizada S. Canzian, 5984/a, 30121 Venedig
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Auf einem belebten, aber gut versteckten Platz mit pittoreskem Brunnen trifft man sich schon am frühen Morgen zum Wein.
Campo S. Canzian, 6032/6044, 30121 Venedig
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Bàcaro in einer verwinkelten Gasse mit großer Cicchetti-Auswahl. Gute Abend-Adresse mit Live-Jazzkonzerten.
Salizada del Pistor, 4556/C, 30121 Venedig
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Klein, fein, köstlich: Ein atmosphärisches Kleinod unter den Bàcari! Viele Fischvariationen auf den Cicchetti und Porchetta – fein geröstetes Jungschwein. Eine Spezialität, die man selten findet.
Fondamenta dei Ormesini, 2684, 30121 Venedig
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Winzig klein und authentisch: Eine Top-Adresse, die man nicht übersehen darf! Diese Bàcaro liegt ein bisschen versteckt an der Treppe gleich nach der Ponte Sant'Antoni.
Strada Nova, 2208, 30121 Venedig
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Sehr familiär – im Viertel Castello. Klein und fein mit einem Tresen voller weinseligem Nippes und einem kleinen Hinterzimmer für den Tratsch des Tages. Große Weinauswahl und köstliche Cicchetti! Eine echte Lieblingsadresse, in der auch Live-Musik gespielt wird.
Salizada de le Gatte, 3183/A, 30122 Venedig
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Nachbarschaftstreff mit feinen Cicchetti und reichlich Meeresfrüchten am Beginn der Via Garibaldi in Castello.
Via Giuseppe Garibaldi, 1664, 30122 Venedig
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Moderne und angenehm minimalistische Mini-Weinstube - abseits vom touristischen Strom in der Via Garibaldi im Castello-Viertel. Bis in den späten Abend sitzt man auf der Via Garibaldi mitten im echten venezianischen Getümmel auf der Terrasse.
C. Giazzo, 1580, (Via Garibaldi) 30122 Venedig
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Eine der neuen Wine Bars in Venedig mit hohem Anspruch an Qualität und Service. Große Wein-Auswahl und Sommelier‘s-Corner mit exquisiter Auswahl.
Via Giuseppe Garibaldi, 1765, 30122 Venedig
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Traditionell und zugleich angesagt beim jungem Publikum mit frischer Cicchetti-Auswahl und regionalem Wein-Angebot. Oben Ristorante, unten Bar, etwas versteckt direkt hinter dem Campo San Bartolomeo, nur zwei Minuten entfernt von der Rialto-Brücke.
Sestiere di S. Marco, 5495, Calle de l’Orso, 30124 Venedig
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Ein Klassiker und Urgestein unter den venezianischen Bàcari in San Marco mit fast schon musealem Charakter. Prominente Stadtbewohner, Opernsänger und Schauspieler werden an den Wänden gewürdigt. Die Bar-Lampen mit Spitzenbesatz werfen ein legendär charmantes Licht ins Glas.
Campiello, Campo Santi Filippo e Giacomo, 4621, 30122 Venedig
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Familiärer Treff der Nachbarn in San Polo mit überraschend guter Weinauswahl auf kleinstem Raum. Am Campo San Tomà kann man den Vino auch draußen genießen.
Calle Larga Prima, 2863, 30125 Venedig
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Mit Blick auf den Canale Grande zwischen Ponte di Rialto und Fischmarkt wird hier draußen getrunken. Den exklusiven Sitzplatz am legendären Canal nutzen Einheimische wie Besucher der Serenissima gern, viele Sitzplätze und ein Tipp auch für kühle und sonnige Tage.
Sotoportego del Bancogiro, 130, 30125 Venedig
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Klassiker und Restaurant mit guter Küche. Hier kühlt man seine Weine im Winter auch gern direkt am offenen Fenster und bietet reichliche Genuss mitten im Bezirk Dorsoduro.
Dorsoduro, 3922, 30123 Venedig
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Beliebt, belebt, echt. Hier steht man gern draußen, schaut dem Bootsverkehr auf dem Kanal zu und schlemmt die fabelhaften Cicchetti mit einem guten Tropfen. Was man schätzt, kann auch als Flasche mitgenommen werden.
Fondamenta Nani, 992, 30123 Venedig
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Ein beliebter Treff- und Aussichtspunkt der Venedig-Besucher, denn gegenüber liegt der letzte Squero, die klassische Gondelwerft. Bei einem Glas Wein kann man den Gondolieri beim Ausbessern ihrer Gondeln über den Kanal zuschauen.
Dorsoduro, 943, 30123 Venedig
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Ein Geheimtipp, denn Touristen finden den hübschen und grünen Campo San Giacomo da l’Oria nicht oft. Hier spielen die Kinder vor der Tür, das Treiben ist bunt und die Enoteca ausgesprochen gut.
Sestiere Santa Croce 1502, Campo San Giacomo da l’Oria / Ecke Calle Larga, 30135 Venedig
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Wein trinken und lesen. Denn hier ist die Decke mit Wein-Etiketten tapeziert. Dazu gibt’s Klassiker der venezianischen Küche mit vielen Meeresfrüchten.
Calle Cavalli San Marco 4081, 30124 Venedig
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Berühmter und bekannter Klassiker mit großen Kupferkesseln an der Decke. Den Wein gibt’s für das Glas vor Ort und frisch aus Körben abgefüllt auch für Zuhause. Gleich hinter der Rialto-Brücke in einer kleinen Calle gelegen - und doch abseits genug.
San Polo 429, Venedig
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Zentral in Bahnhofsnähe liegt die wohl die kleinste Schattenbar Venedigs.
Fondamenta dei Tolentini 183, Santa Croce - 30135 Venedig
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Das bekannte und angeblich älteste Bàcaro Venedigs punktet heute mit gehobener Küche und einer versteckten Terrasse im Hinterhof abseits des Getümmels in San Polo, nicht weit entfernt von der Rialto-Brücke.
Ruga Vecchia San Giovanni 778, Venedig
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