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Über 130 Tote, viele Vermisste, 62 weggerissene Brücken, zerstörte Straßen und Schienen, eingestürzte Weingüter und Häuser: Die Flutwelle am 14. Juli hat das Weinbaugebiet Ahr zu einer verschlammten Trümmerlandschaft gemacht. Unsere Reporterin Gisela Kirschstein war in den Weinorten unterwegs : “Die Menschen sind hohläugig, viele stehen unter Schock oder sind traumatisiert.”

An der Straßenecke in Dernau liegt ein Weintank, umher gewirbelt wie Spielzeug, eine Straße weiter hängt ein Auto oben im Baum. Die Straßen sind schlammbedeckt, auf dem Bahndamm stapeln sich Autowracks, in der Luft hängt ein süßlicher Gestank von Öl und Moder – Verwüstungen, meterhohe Trümmerberge, so weit das Auge reicht. Bagger, Traktoren und schwere Lastwagen dröhnen. Sie räumen, sie baggern Schlamm, und sie reißen ab, was nicht mehr zu retten ist. Und das ist vieles. Im Weinort Dernau an der Ahr ist nichts mehr, wie es einmal war.

Am späten Abend des 14. Juli brach eine Flutwelle unvorstellbaren Ausmaßes über das idyllische Ahrtal herein. In den Tagen zuvor hatte heftiger Starkregen tagelang über der Region wahre Fluten ausgeschüttet, die ohnehin Regen-gesättigten Böden konnten die Wassermassen nicht mehr fassen. Es war Mittwochabend, als der Wasserspiegel der Ahr stieg, erst langsam, dann immer schneller: Ab etwa 20.00 Uhr türmte sich eine Flutwelle am Oberlauf der Ahr.

Die Wassermassen haben die Brücke von Dernau zum Einsturz gebracht.

Gisela Kirschstein

Acht Meter Flut statt 80 Zentimeter Wasserstand

Um 20.15 Uhr meldete der offizielle Pegel Altenahr einen Wasserstand von 5,09 Metern. Es war seine letzte Meldung. Denn um 20.45 Uhr existierte er nicht mehr, die Wassermassen hatten ihn weggerissen. Der Wasserstand der Ahr liegt normalerweise um die 80 Zentimeter niedrig, man könnte zu Fuß ans andere Ufer kommen. Doch in dieser Nacht entfesselte die Natur eine bis zu acht Meter hohe Flutwelle, die Häuser mit sich riss und unvorstellbare Schäden anrichtete.

An einem Haus in der Hauptstraße in Dernau räumen schlammüberzogene Menschen Flaschen aus einem stockfinsteren Keller, es sind die letzten Überreste im Weingut Bertram. Flaschenlager und Weinkeller seien "komplett zerstört, und alles ist weg oder kaputt", schreibt Winzerin Julia Bertram, ehemalige Deutsche Weinkönigin, Tage nach der Katastrophe auf Facebook. Ihr und der ganzen Familie gehe es gut, aber die Häuser der Familie seien "unbewohnbar und zum Teil nicht zu erreichen." Es ist bislang ihr einziges Lebenszeichen. Die traumatisierten Menschen sind für Journalisten nicht zu sprechen, sie müssen ihre Existenz retten.

Das kurze Statement war eines der ersten Lebenszeichen der Winzer im Ahrtal. Fast alle Weinbaubetriebe haben dramatische Schäden erlitten: Maschinen, Weinlager, Wohnhäuser, Fahrzeuge, Straußwirtschaft und Pensionen – viele Winzer haben alles verloren. Der Flut-Tsunami zerstörte 62 Brücken entlang der Ahr und beschädigte 13 weitere stark. Auch die Brücke in Dernau, die hinüber zur Weingenossenschaft Dagernova führte, wurde von der Wucht des Wassers regelrecht zerrissen.

Das Central-Hotel in Altenahr wurde bis in den ersten Stock überschwemmt.

Gisela Kirschstein

“Die Welt steht für uns still”

Auch die Vinothek der Winzergenossenschaft Mayschoß-Altenahr ist ein Trümmerfeld. "Das komplette Gebäude ist zerstört, und wir wissen aktuell nicht, wo wir zuerst helfen und anfangen sollen", schreibt die älteste Winzergenossenschaft Deutschlands ebenfalls auf Facebook: "Die Situation in Mayschoß und an der ganzen Ahr ist schrecklich. Seit zwei Wochen steht die Welt für uns still und es hat sich alles verändert."

Die Flutwelle zerstörte die komplette Infrastruktur entlang des 40 Kilometer langen Tals. Strom, Wasser und Telefon sind tot. Manche Orte wie etwa Mayschoß waren tagelang von der Außenwelt abgeschnitten – auch Straßen und Schienen entlang des Tals hat die Flut zerstört, die Ahrtalbahn existiert nicht mehr. Die Gegend um den Bahnhof Altenahr ist eine Trümmerlandschaft: Das Wasser hat das Hotel zur Post nur noch als Ruine hinterlassen, aus dem Hotel Central nebenan ragen Bäume und Trümmerteile. Beißender Staub liegt über dem gesamten Tal, das Wasser der Ahr ist hochgradig kontaminiert, die Behörden warnen vor Seuchengefahr. Selbst jahrzehntelang erfahrene Spezialisten des Technischen Hilfswerks (THW) und der Bundeswehr sind fassungslos: “Ich habe dutzende schwere Katastrophen-Einsätze auch im Ausland absolviert, aber so etwas habe ich noch nie erlebt”, erzählt ein THW-Mitarbeiter, der ungenannt bleiben will.

"Das ist eine wirkliche Apokalypse an der Ahr", sagt Steffen Christmann, Präsident des Verbandes der Prädikatsweingüter (VDP) zu wein.plus: "Wenn man diese Bilder sieht, die meterhohen Trümmerberge bis zum ersten Stock, da ist es schwer, da die Fassung zu behalten." Etwa 65 Vollerwerbsbetriebe gibt es im Rotweinanbaugebiet, dazu gehören so bekannte Namen wie Jean Stodden oder Meyer-Näkel.

Trümmerfeld am Bahnhof Altenahr: Die Bahnstrecke ist vollständig zerstört.

Gisela Kirschstein

Produktionshalle, Maschinenhalle, Flaschenlager – alles weggerissen

"Das Weingut Meyer-Näkel ist nahezu ein Totalschaden", berichtet Christmann, "da steht kein Stein mehr auf dem anderen." Die neue Halle am Fluss wurde ein Opfer der Fluten. 300 Barrique-Fässer voller Wein rissen die Fluten mit, manche Fässer wurden noch in mehreren Kilometern Entfernung gefunden. "Im Moment sind wir dabei zu retten, was zu retten ist", schreiben Dörte und Meike Näkel auf ihrer Facebook-Seite: "Die Vinothek und der alte Weinkeller mit Schatzkammer sowie das Büro wurden komplett geflutet und unter Schlammmassen begraben." Produktionshalle, Tanklager, Maschinenhalle und Flaschenlager – alles weggerissen. Auch sie sind nicht persönlich zu sprechen.

Die Menschen im Tal sind hohläugig, viele stehen unter Schock oder sind traumatisiert. 134 Menschen verloren in der Flutnacht ihr Leben, 59 werden noch vermisst. Viele können ihr Erleben gar nicht fassen, schon gar nicht in Worte. "Wir haben unseren Keller noch, aber keine Geräte mehr, wir bergen gerade unsere Fässer", berichtet Marita Heil vom Weingut J.J. Adeneuer in Ahrweiler: "Bei uns stand das Wasser im Hausflur 1,50 Meter hoch. Büro, Lager, alles ist komplett vollgelaufen."

In Ahrweiler stiegen die Fluten auf bis zu sechs Meter, kaum ein Haus, das nicht bis hinauf in den ersten Stock unter Wasser stand - selbst in Straßen, die weit entfernt von der Ahr liegen. Es gibt kaum ein Haus, vor dem jetzt nicht Trümmerberge und zerstörter Hausrat vor den Türen liegen.

Mit Baggern versuchen Anwohner und Helfer, den Fachwerk-Ortskern von Dernau zu säubern.

Gisela Kirschstein

Hoher Pilzdruck gefährdet die Ernte 2021

Dabei müssten die Winzer jetzt dringend in den Weinbergen nach dem Rechten sehen: Grün und unversehrt stehen die meisten Weinberge an den Steilhängen des Tals, doch die Feuchtigkeit der vergangenen Wochen hat den Pilzdruck massiv erhöht, es drohen Befall mit dem Falschen Mehltau und anderen Pilzkrankheiten. Für viele Betriebe ist nun auch noch die Lese 2021 in Gefahr.

"Das Hochwasser trifft das Ahrtal mitten ins Herz", sagt Peter Kriechel, Vorsitzender des Ahrwein e.V.. Der Weinbau als tragende wirtschaftliche Säule der ganzen Region stehe so nicht mehr. "Doch wir erfahren derzeit eine genauso große Flut an Hilfsbereitschaft und Mitgefühl", betont Kriechel. Ganze Trupps von Winzern und ihren Mitarbeitern aus allen Teilen des Landes eilen ihren Kollegen an der Ahr zu Hilfe, mit Maschinen ebenso wie mit Manpower. Sie kommen etwa aus der Pfalz, aus Franken, aus Rheinhessen und dem Rheingau.

Und da sind die zahllosen freiwilligen Helfer, die Tag für Tag ins Ahrtal zum Helfen strömen. Wildfremde Menschen aus der ganzen Republik, packen einfach an, schaufeln Schlamm aus Kellern, bilden Eimerketten und helfen, wo Not ist. "Es ist eine Solidarität, das ist unfassbar", sagt auch Marita Heil, "wir kriegen Gänsehaut vor lauter Rührung."

Und auch die Ahr-Weingüter selbst bieten inzwischen Weinpakete mit sogenannten "Flutweinen" an: Schlamm-verschmierte Weinflaschen, geborgen aus den Kellern. "Einige der besten Flaschen der ausgezeichneten und geschätzten Ahrweine", schreiben die Ahr-Winzer selbst auf ihrer Homepage: "Wir nennen sie die Flutweine - unser schlimmster Jahrgang."

Schlammwüste und zerstörte Autos vor den Weinbergen im Ahrtal.

Gisela Kirschstein

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