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Die Schweiz zählt knapp acht Millionen Einwohner, davon 6,5 Millionen Menschen im weintrinkenden Alter (ab 18 Jahren), und (gemäß Verbandsstatistik) gut 300 Weinhändler. Es mögen auch einige mehr sein. Man sagt sogar, die Schweiz sei das weinhändlerreichste Land der Welt, dazu habe ich aber keine verlässlichen Zahlen gefunden. Bleiben wir bei den Fakten: Auf 20.000 Menschen kommt – statistisch gesehen – ein Weinhändler, eine Weinhändlerin. Gehen wir davon aus, das nur ein Viertel davon (mehr als gelegentlich) Wein trinkt, dann gibt es für 5.000 Menschen eine Weinhandlung. Ziehen wir nun noch in Betracht, dass ein großer Teil (Schätzungen sprechen gar von 60 Prozent) des Weins von Grossisten, Lebensmittelgeschäften und Discountern sowie (eine neue Entwicklung) im Internet-Versandhandel abgesetzt wird, dann bleibt für den Weinhandel „alter Schule“ nur noch wenig übrig. Oft zu wenig, um zu überleben. Mich ergreift schon fast das Erbarmen.

 

Weinhändler und Winzer präsentieren ihre Weine (Foto: P. Züllig)

Ist das nicht Anlass genug, einmal über den Weinhändler, die Weinhändlerin nachzudenken oder sogar darüber zu schreiben? Gibt es ihn, den Typus Weinhändler, und wie sieht er aus, wie benimmt er sich, was treibt ihn um, wie lebt oder überlebt er? Natürlich kann ich nur über die reden, die ich schon getroffen habe, die ich kenne. Und das sind einige. Schweizweit gesehen aber keine zehn Prozent, weltweit um null-komma-null-null-null-x Prozent. Kann man da von  dem  oder  der  Weinhändler/in sprechen? Man kann nicht, aber jedermann tut es – auch ich – aufgrund der eigenen Erfahrung. Da kommt mir der Philosoph, Nobelpreisträger und Erfolgsautor („Schnelles Denken, langsames Denken“) Daniel Kahneman in den Sinn, der schlüssig aufzeigt, wie wir unsere Urteile bilden, und dabei das „Gesetz der kleinen Zahlen“ erklärt. Er nimmt das Beispiel des Bibliothekars (wie hat er nach allgemeiner Auffassung zu sein?), ich mache hier den Weinhändler zum Beispiel: Er ist kompetent, freundlich, eindringlich, seriös, hartnäckig, überzeugend, ein Genussmensch, ein Tausendsassa, schlagfertig, beredt und noch einiges mehr. Ziehen wir den Umkehrschluss: Zwei Menschen, der eine kompetent, freundlich, eindringlich, seriös… , der andere inkompetent, unfreundlich, oberflächlich, unseriös… Welcher von beiden ist der Weinhändler? Natürlich der erste! Statistisch gesehen aber vollkommen falsch: Es ist mit allergrößter Wahrscheinlichkeit der zweite, denn es gibt viel, viel mehr Menschen, die nicht Weinhändler sind. Voilà, das „Gesetz der kleinen Zahl“.

 

Weinhändler und Weinfreunde im Gespräch; bei Auktionen trifft man sich (Foto: P. Züllig)

Einer meiner Weinhändler – um auf das Thema meiner Kolumne zurückzukommen – wirkt eher scheu, zurückhaltend, fast schon linkisch. Selbst wenn er von seinen Weinen spricht, gibt es nur „gute Weine“, vielleicht einmal sehr gute, wenn er meint, eine Steigerung sei angebracht. Obwohl ein ausgezeichneter Verkoster, sprudeln die Begriffe nicht so rasch und einfach, wenn er um ein Urteil gebeten wird. Kurzum (siehe oben), eine ganze Reihe von Eigenschaften des Weinhändlers scheinen ihm zu fehlen, zumindest jene, die sonst fast zwingend dem Berufsbild zugeordnet werden.

Und jetzt das: Bereits auf dem Umschlag mit Empfehlungen für sein Angebot an Rieslingen ein fast schon ultimativer Superlativ: „Einer der vollsten, frischesten und geschmeidigsten Rieslinge, die ich je probieren durfte!“ Immerhin das Verb „dürfen“ enthält noch einen Rest jener Demut, die ich bei diesem Weinhändler eigentlich kenne. Doch in der Broschüre geht es drastisch weiter: „Ein absolutes Ausnahmejahr“, „unglaubliche Eleganz, gepaart mit unbändiger Kraft“, „traumhaft“, „ein Naturwunder“, „Riesling wie aus dem Bilderbuch“, „sinnlicher Verführer“, „paradiesisch komplex“... Mir wird es irdisch wirr, was da alles an Spitzenweinen angeboten wird. Extra für mich entdeckt und bereitgestellt – ich brauche nur noch zuzugreifen.

 

Ultimative Werbung schon auf dem Kuvert der Broschüre (Foto: P. Züllig)

Ich verstehe die Welt nicht mehr. Was ist geschehen mit „meinem“ so zurückhaltenden, eher tapsig wirkenden Weinhändler? Er hat Platz genommen im Zug der Superlative, der im Weinhandel zwar immer unterwegs ist, jetzt aber – wo der neue Jahrgang so richtig lanciert wird (im Hinblick auf die Winterzeit und das kommende Weihnachtsgeschäft) – ganz besonders groß, gewaltig und lautstark durch die Gegend braust. 2012 ist natürlich „ein absolutes Ausnahmejahr, sogar noch besser als der grandiose Jahrgang 2011“. Es mag richtig sein oder auch nicht, geschrieben wird es Jahr für Jahr. Es ist immer ein Ausnahmejahr für die eine oder andere Rebsorte, für das eine oder andere Weingebiet.

Aus dem Bordelais kennen wir das schon seit Jahren. Der Jahrgang ist immer noch etwas besser – und noch etwas teurer. Und wenn der Jahrgang nicht besser ist, dann sind es die Weine, die in ihrer Charakteristik eine Ausnahme sind. Ja, die Zeit der Superlative ist im Schwang; die Weinhändler überbieten sich in ihren Wortkonstruktionen, finden sogar neue oder ungewohnte Wortschöpfungen. Um beim Riesling zu bleiben, klingt das etwa so „…eine Kombination aus nobler Schlichtheit, beeindruckender Präzision und edler Schönheit… ein Überwein, ein Wunder der Natur… eine himmlische Auslese… ein Naturspektakel… am Gaumen macht es ‚bumm‘… raubt den Verstand, setzt in Trance… bombastische Aromen im schwerelosen Wein… eine himmlische Säurestruktur…“ Endlich kann ich mir vorstellen, was mich im Himmel erwartet – unter vielem anderen auch eine Auslese, ja, sogar eine Säurestruktur.

 

Genussattacke (Foto: P. Züllig)

Im Augenblick werde ich – es ist eben Zeit der Superlative – von Angeboten an einmaligen Weinen zum besten Preis, mit der größten Auswahl, dem besten Service und dem höchsten Genuss  geradezu zugedeckt. Die Superlative sind losgelassen, machen nirgends halt, weder auf der Straße oder im Briefkasten, noch im Internet. Während ich diese Zeilen schreibe – pieps, pieps – schwappt eine neue Meldung in meine Mailbox: „Der charakterstarke Malbec von … vereint alle Vorzüge seiner Herkunft: trockenes Klima, Weinbergslagen auf über 1.000 Meter über Meer sowie heiße Tage und kühle Nächte. Der 6-monatige Ausbau in amerikanischer Eiche verleiht dem Wein sein wunderbares Aroma nach frischen Kirschen und Dörrzwetschgen in schöner Balance mit intensiven Beeren…“ Und dazu natürlich die Aufforderung, mich doch selber zu überzeugen. Die Überzeugung kostet mich in diesem Fall nur 6,45 statt 12,90 Franken.

Werbung hat – das weiß man – ihre eigenen Gesetze. 300 Schweizer Weinunternehmen – so mein Eindruck – haben sich diesen bedingungslos unterworfen. Und das alles nur zu meinem Glück und Genuss. Da wird viel angeboten: „Genuss wie anno dazumal… Genuss-Wanderung… Genuss im Dampfzug… Genuss im Genusslabor…“  – und natürlich „Genussweine“, was denn sonst?

 

Immer nur das Beste (Foto: P. Züllig)

Überwältigt von so vielen Genussmöglichkeiten und Superlativen, scheint mir das Plakat am Straßenrand, wo Autofahrer, Radfahrer, Wanderer, ja, sogar Zugfahrer unablässig vorbeiziehen, geradezu zurückhaltend und bescheiden: „Schweizer Weinwoche. Beste Weinqualität zum besten Preis“. Beste Qualität zum besten Preis: Ist das vielleicht das Schlüsselwort? Neugierig und genusssüchtig habe ich mich aufgemacht zum Discounter, um die Weinregale zu studieren. Da standen aber die Flaschen und Kisten und Schachteln herum, als ginge es darum, ein Lager zu leeren. Wein zum Discountpreis eben. Die Kunden langten ab und zu zu. In der Stunde, während der ich das Treiben beobachtet habe, waren es fast ausnahmslos die billigsten Weine, wohl in der Annahme, es seien auch die besten. Die Superlative zeigen Wirkung. Sie werden beliebig ausgewechselt, vertauscht, gleichgesetzt.

Da lob’ ich mir „meinen“ Weinhändler. Wenn ich ihn treffe, mit ihm rede, über Weine spreche, diskutiere, wirkt er kompetent, zögernd, bescheiden, vertrauenswürdig. Dann ist er noch der Weinhändler „alter Schule“. Sobald er aber über Weine schreibt, unterscheidet er sich kaum von den weitaus meisten Weinhändlern, die ich kenne. Auch er erstickt in Superlativen, denen ich mich nur durch Verweigerung entziehen kann.

Herzlich
Ihr/Euer

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