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Gefunden auf dem Flohmarkt  oder in der Brockenstube (im Gebrauchtwarenladen): ein schmuckes blaues Einsteckalbum, wie neu, ohne Fotos, dafür bestückt mit Weinetiketten. Ein Freund hat es aufgestöbert und mir mitgebracht, „weil ich mich ja für Weine interessiere“, sagt er. Meine Frau motzt: „Nein, das nicht auch noch, du hast genug Sammlungen!“ Tatsächlich, auf das Ablösen von Weinetiketten habe ich verzichtet. Keinen neuen Ballast mehr, das Haus ist bereits gefüllt mit Sammelgut: Bücher, Kunstkataloge, Kugelschreiber, Weihnachtskrippen... und natürlich Weine. Ich stelle mir vor, das alles landet einmal auch im Brockenhaus, die Weine natürlich nicht, sie werden getrunken – von mir – und nach mir wohl verkauft. Der Rest ist aber so gut wie unverkäuflich. Sammelgut eben.
Album eines Unbekannten aus dem Brockenhaus (Foto: P. Züllig)

Doch das Album hat mein Interesse geweckt. Eine Sammlung? Erinnerungen an Weinerlebnisse? Ein Tagebuch in Form von Etiketten? Eine Dokumentation des Weingeschmacks? Ich weiß nichts über den Besitzer, stelle mir aber vor, wie das Buch in den Ramsch gekommen ist. Ein Sammler oder eine Sammlerin kann es nicht gewesen sein, denn Sammler legen großen Wert auf Systeme, auf Ordnung, Vollständigkeit. Auf den 100 Seiten mit etwa 300 Etiketten kann ich beim besten Willen kein System erkennen. Ordnungssysteme sind aber für Sammler wichtig, mitunter sogar wichtiger als die Sammlung selbst.

Es muss sich um einen Weinliebhaber gehandelt haben, der das, was er gerade getrunken hat, mit abgelösten Etiketten dokumentieren wollte. Ich stelle mir vor, dass er inzwischen gestorben ist und die liebevoll gepflegte kleine Sammlung – sie bricht um 1995 ab – von den Erben (nach einer gewissen Zeit der Pietät) – dem Brockenhaus übergeben wurde. Was kann man schon mit Weinetiketten anfangen?

 

Zwei von hundert Albumseiten (Foto: P. Züllig)

Für mich enthält das Album aber viel Information und noch mehr Geheimnisse, die meine Phantasie anregen und so manchen Hinweis auf Weinliebe und Weingeschmack liefern. Eigene Gedanken und Erlebnisse tauchen auf und werden davongetragen, in die große und doch so kleine Welt der Weine. Viele Namen kenne ich, manchen Wein habe ich – wenn auch nicht den gleichen Jahrgang – irgendwann einmal getrunken. Und ich frage mich, Seite um Seite: Was hat der Sammler alles erlebt, bevor er das Etikett von der Flasche gelöst hat? Waren es ähnliche Eindrücke, Erlebnisse, Gefühle, wie ich sie hatte, als ich die gleichen oder ähnliche Weine getrunken habe?

Das erste Etikett trägt das Berner Wappen und zeigt eine Burg: Schloss Erlach, ein historisches Städtchen am Bielersee, dort, wo die berühmte Rousseau-Insel (Peters-Insel) auf dem Landweg zu erreichen ist. Der Schweizer Kanton Bern ist seit dem Einmarsch Napoleons kein Weinkanton mehr. Mit dem Verlust der alten „Untertanengebiete“ der Herren von Bern gingen auch die goßen Rebflächen verloren. Nur am Bielersee ist die Rebe bis heute erhalten geblieben. „Das Rebgut des Staates Bern“, so die Beschriftung, gehört zwar noch dem Kanton Bern, ist aber längst als Pacht in private Hände übergeben worden. Eine Jahreszahl trägt das Etikett nicht, dafür den Vermerk „Goldene Medaille, Expo 1964“ (Expo 64, das war die denkwürdige Schweizer Landesausstellung in Lausanne).

 

Berner Weingebiet am Bielersee mit Petersinsel (Foto: P. Züllig)

Unser Etikettenspiel beginnt also im lokalen Bereich, und zwar in den 1960er Jahren. Schon auf der zweiten Seite – wer hätte das von einem Schweizer erwartet? – taucht ein berühmter Moselwein auf: Kröver Nacktarsch, Jahrgang 1956 (Josef Milz) und 1957 (Richard Langguth). Und schon beginnt sich ein Kapitel Weingeschichte zu enthüllen: Damals, in den Fünfzigern, war der „Nacktarsch“ auch in der Schweiz unglaublich populär und beliebt. Unmittelbar daneben aber ein ganz anderer Typus von Weißwein: Dézaley  („Étoile de Lavaux“), ein Chasselas vom Genfersee und ein Fendant („Soleil du Valais“) aus dem größten schweizerischen Anbaugebiet, dem Wallis – beide Jahrgang 1952, gar nicht süß, sondern sehr trocken.

Erstaunlich: Unter den vielen Schweizer und einigen Moselweinen – alles Weißweine – ist unvermittelt – noch vor den Franzosen – ein Grüner Veltliner (Kremser Sandgrube von Rudolf Kutschera und Söhne) zu finden. Erst später werden mit einem Beaujolais 1956 und einem Châteauneuf-du-Pape 1957 (beide H. Deroye) zwei Rotweine dokumentiert. Dann aber nehmen die roten Weine zu, vorwiegend Franzosen, meist Burgunder: Pommard, Clos de Vougeot, Mercurey (Parisote,1947!), Volnay, Gevrey-Chambertin (Daniel Roland). Italiener, damals sehr verbreitet in der Schweiz, sind nur spärlich zu entdecken, und erst im hinteren Teil des Albums. Die Italiener waren damals – hierzulande – fast ausschließlich Chianti in Korbflaschen (Fiaschetto), bescheidene Alltagsweine, aus heutiger Sicht „gerade noch trinkbar“, also keine Weine, von denen ein Weinliebhaber Etiketten sammeln würde.

 

Zwei Etiketten% die den Geschmack der 1960er Jahre zeigen (Foto: P. Züllig)

Beim Blättern im Album entfaltet sich immer mehr und immer prägnanter ein gutes Stück Weingeschichte. Vieles ist sicher Zufall oder der individuelle Geschmack eines Unbekannten. Doch – und da bin ich mir sicher – er hat das ins Album geklebt, was damals – in der Zeit von 1950 bis 1995 – angeboten und verkauft wurde, was der Weinliebhaber damals oft getrunken hat und was ihm wichtig schien, erinnert zu werden.

Wer sich die Mühe macht, Etiketten abzulösen, zu trocknen, zu glätten und einzukleben in ein schmuckes Album, der muss eine besondere Beziehung zum Wein haben, nicht nur zum Etikett; der muss sich erinnern wollen an das, was sich in rund vierzig Jahren an Weinerlebnissen angereiht hat. Auch wenn immer wieder ähnliche – oder gleiche – Weine auftauchen, scheint sich doch ein Leben mit Wein zu entwickeln und darzustellen. Etwa nach einem Drittel des Buches finden sich die ersten großen Bordeaux ein: Baron de Pichon-Longueville (1976), Cos d’Estournel (1961), Figeac (1969), Clos Labère (Sauternes 1987). Sie bleiben aber die Ausnahme, die Exoten unter den vielen Weinen. Genauso wie die Italiener, die sich auf zwei, drei Seiten konzentrieren im hinteren Teil des Buches: Barbaresco 1979 (Gaja),  Barolo 1984 (Giacosa), Vino Nobile di Montepulciano 1990 (Fattoria del Cerro).

 

Zwei Etiketten% die noch immer (fast) gleich sind (P. Züllig)

Es sind nicht einfach Bilder und Schriften, Namen und Weine, die hier eingeklebt sind und präsentiert werden. Es ist ein Zeitgeist, der dem Album entsteigt. In der Bild- und Schriftgestaltung zeigt sich vor allem der Geschmack der 1960er bis 1970er Jahre. Aber auch inhaltlich wird Weingeschmack aufgelistet – und die Verfügbarkeit von Weinen in diesen Jahren – dokumentiert. Es ist ein Buch, das mehr erklärt als viele Weinbücher, die in meinem Regal stehen. Es hat deshalb einen Ehrenplatz verdient, zwischen dem „Großen Johnson“ und dem dicken Wälzer von Parker, weil es eine Weingeschichte des „kleinen Mannes“ schreibt, der Wein zwar nicht analysiert, aber offensichtlich liebt und immer wieder erinnern möchte.

Herzlich
Ihr/Euer

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