Sportlich, fit, gesund: Laut Umfragen verzichtet vor allem die Generation bis 35 Jahren wegen eines bewussteren Lebensstils und der potentiellen Suchtgefahr auf Alkohol. Aktuelle Zahlen des Marktforschungsinstituts Nielsen belegen, dass 2021 weltweit 58 Prozent der Menschen häufiger alkoholfreie Getränke konsumiert haben als im Vorjahr. Eine globale Tendenz. Doch auch der Verzicht auf Alkohol soll Trinkspaß und Genuss möglich machen.
Neben alkoholfreiem Bier, das seit Ende der 1970er-Jahre aus deutschen Getränkeregalen nicht mehr wegzudenken ist, erfreuen sich seit einigen Jahren entalkoholisierte Weine und Sekte einer spürbar wachsenden Nachfrage. Das Deutsche Weininstitut (DWI) spricht aktuell von einem Marktanteil am gesamten Weinkonsum in Deutschland von rund einem Prozent, beim alkoholfreien Schaumwein sogar schon von fünf Prozent. Tendenz: steigend
Der höhere Bekanntheitsgrad der Sekte ist leicht zu erklären. Große Sektkellereien wie Schloss Wachenheim, Henkell Freixenet oder Rotkäppchen Mumm verkaufen schon seit vielen Jahren ihre alkoholfreien Produkte im LEH und Discounter.
Im Vergleich zur Bierindustrie mit heute fast 700 alkoholfreien Biersorten allein in Deutschland, steht die Branche für alkoholfreie Weine noch am Anfang. Doch alle Beteiligten spüren inzwischen einen deutlichen Aufwind. Während die ersten Versuche von Handelskellereien und Abfüllern mit Private Labels erfolgten, trauen sich jetzt auch Spitzenwinzer an Produkte dieser Kategorie. Sie setzen auf handwerkliche, mit Sorgfalt hergestellte entalkoholisierte Weine, die auch anspruchsvolle Weinkenner überzeugen sollen.
Per Definition ist Wein ein alkoholisches Getränk aus vergorenem Traubensaft. Während der Gärung wird der enthaltene Zucker in Alkohol umgewandelt – ein natürlicher Prozess. Aber wie bekommt man ihn wieder heraus? Zur Entalkoholisierung eignen sich verschiedene Methoden. Üblich sind heute vorwiegend Verfahren mit kontinuierlicher Vakuum-Destillation. Dabei wird dem Wein der Alkohol bei Unterdruck und Temperaturen um 30 °C schonend entzogen. Die mit dem Ethanol abgetrennten Aromafraktionen werden dem Wein nachträglich wieder zugeführt.
Das erste Patent zur Vakuumdestillation wurde bereits 1908 vom Rheingauer Weinhändler Carl Jung angemeldet. Jung war ein visionärer Unternehmer. Die gleichnamige Kellerei mit Sitz in Rüdesheim erzeugt heute rund zehn Millionen Flaschen alkoholfreie Weine.
Weil aber die Weine mit dem Alkohol einen Geschmacksträger verlieren, wird ihnen in der Regel Süße zugesetzt, um die Balance wiederherzustellen. Deshalb haben alkoholfreie Weine im Vergleich zu trockenen Weinen einen sehr hohen Zuckergehalt, was nicht dem Geschmack vieler Konsumenten entspricht. Zudem schmeckten die alkoholfreien Weine der ersten Generation unausgewogen und unharmonisch, und bei vielen ist das noch heute so.
Doch die Branche schläft nicht. Sie arbeitet daran, die Qualität und Sensorik deutlich zu verbessern. Durch das wachsende Interesse der Verbraucher verbessern sich das Know-how und die Technologie zur Entalkoholisierung. Debbie Novograd ist Geschäftsführerin des kalifornischen Technologie-Unternehmens BevZero, das Anlagen zur Entalkoholisierung herstellt. Dem Magazin Drinks Business sagte sie: „Es sind neue, günstigere Technologien verfügbar, um alkoholfreie Getränke aus alkoholischen Grundprodukten herzustellen“. Novograd sei es wichtig, dass die Branche sich zukünftig auf Premium-Weine fokussiere, um der Kategorie der alkoholfreien Weine zu einem besseren Image zu verhelfen.
Dass alkoholfreier Wein eine ernstzunehmende Produktkategorie ist, zeigt die jüngste Änderung des EU-Weingesetzes. Anfang Dezember 2021 verabschiedete die EU eine neue Verordnung, nach der Wein, sowie Schaum- und Perlwein mit zugesetzter Kohlensäure nun mit der Angabe "entalkoholisiert" oder "teilweise entalkoholisiert" versehen werden dürfen.
In Deutschland fallen alkoholfreie und alkoholreduzierte Weine bisher unter das Lebensmittelgesetz und müssen auch auf dem Etikett anders ausgezeichnet werden. So müssen die Nährwertangaben und das Haltbarkeitsdatum deklariert werden. Ein Getränk darf als alkoholfrei bezeichnet werden, wenn es maximal 0,5 Prozent Alkohol enthält.
2018 gründeten die Berliner Studenten Philipp Rößle und Moritz Zyrewitz das Start-up-Unternehmen "Kolonne Null" und brachten in Zusammenarbeit mit einem österreichischen Weingut ihren ersten alkoholfreien Wein in die Läden. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten, weitere Weingüter stiegen in die alkoholfreie Weinerzeugung ein. Namhafte Produzenten wie Kruger Rumpf (Nahe), Freiherr von Gleichenstein (Baden) oder Alois Lageder (Südtirol) erzeugen heute in Zusammenarbeit mit Kolonne Null alkoholfreie Weine und Sekte. Sie alle haben den Trend früh erkannt.
Auch Winzer Johannes Leitz aus dem Rheingau bedient mit seiner Linie „Eins, Zwei, Zero“ die steigende Nachfrage nach alkoholfreien, handwerklich erzeugten Weinen. Er sieht noch viel Aufklärungsbedarf. “Sobald in den sozialen Medien etwas über alkoholfreien Wein geschrieben wird, beginnt zu 95 Prozent ein Shitstorm. Sehr oft wird als Alternative zu alkoholfreiem Wein ein Saft vorgeschlagen. Aber viele Verbraucher müssen aus gesundheitlichen Gründen auf Alkohol verzichten und können kein Produkt wählen, das oft über 150 Gramm Zucker pro Liter enthält. Ich habe mit vielen Kunden auf der ganzen Welt gesprochen. Sie sind sehr froh darüber, eine alkoholfreie Alternative zu Wein zu haben, die sie weiterhin als Weinliebhaber fühlen lässt.”
Der Trend hat gerade erst begonnen.
Johannes Leitz
Neben Leitz hat sich die Familie Bähr aus Mußbach in der Pfalz auf die Erzeugung alkoholfreier Weine spezialisiert. Die rheinhessische Sektmanufaktur Strauch hat zwei alkoholfreie Schaumweine im Sortiment und auch das VDP-Weingut Allendorf aus dem Rheingau bietet alkoholfreien Riesling an. Es tut sich was im Null-Promille-Bereich: Denn weitere Winzer werden diesen Beispielen folgen.
Regelmäßig erscheinen neue alkoholfreie Produkte in den Regalen. Und die wollen verkauft werden. Inzwischen boomen auf alkoholfreie Getränke spezialisierte Online-Shops. In Deutschland werden die Trends vor allem in der Hauptstadt gesetzt. Isabella Steiner und Katja Kauf betreiben den Online-Shop "Nüchtern Berlin", in dem es über 200 verschiedene Weine, Biere, Gin und Rum ohne Alkohol gibt. 2020 eröffneten sie Deutschlands ersten alkoholfreien Späti in Berlin-Kreuzberg, eine zweite Filiale kam 2021 dazu.
Auch in der Sternegastronomie ist alkoholfreies Foodpairing längst ein Thema. Anna Schilling, Sommelière im Berliner Sterne-Restaurant einsunternull, bemerkt seit zwei, drei Jahren eine steigende Nachfrage - und hat reagiert: „Wir bieten zum Menü eine Weinbegleitung und eine alkoholfreie Begleitung an, die sich preislich nicht groß unterscheiden. Non-Alcoholic wird oft gewählt, fast schon zu oft“, sagt sie und lacht. Meistens stecke hinter der Wahl aber keine generelle Ablehnung gegenüber Wein, sondern oft nur Neugier.
Eine Karte mit alkoholfreien Weinen komme für sie trotzdem nicht in Frage, so Schilling. „Ich habe bisher noch keine alkoholfreien Weine probiert, die mich überzeugt hätten. Sie befriedigen meinen Gaumen nicht und sie sind mir zu süß. Das macht sie als Essensbegleiter problematisch.“
Mittlerweile hat sich das einsunternull mit außergewöhnlicher Getränkebegleitung einen Namen in Berlin gemacht. Schilling bereitet die alkoholfreien Alternativen nämlich selbst zu. Sie hat im ersten Lockdown viel experimentiert und mixt seitdem leidenschaftlich gerne. „Ich stecke mein Herzblut in diese Kreationen, probiere zuhause vieles aus. Tee kommt oft zum Einsatz und auch fermentierte Getränke wie Kombucha. Die Haptik eines guten Weins nachzuahmen ist sehr schwierig, aber ich versuche mit Tanninen und Bitterstoffen zu spielen“, erklärt sie ihren Ansatz.
Alkohol spielt im Wein als Geschmacksträger eine fundamentale Rolle. Deshalb stehen Weinkenner den Versuchen meist skeptisch gegenüber, dem Wein „seine Seele“ zu entziehen. Tatsächlich konnten bisher wenige alkoholfreie Weine die Gaumen anspruchsvoller Weinliebhaber überzeugen. Johannes Leitz erklärt sein Produkt vor der Verkostung mit den Worten: “Es kommt nun ein Produkt, das nicht mit richtigem Wein zu vergleichen ist. Aber ein Produkt, das Wein am nächsten kommt. Deutlich näher als alle anderen Alternativen, vor allem wenn es um die Begleitung guter Speisen geht.”
Mit neuen Technologien, sorgfältiger Auswahl der Grundweine und wachsender Erfahrung wird es in Zukunft mehr Winzern gelingen, dem Original ähnlichere Produkte zu erzeugen. Denn die gewaltige Auswahl alkohlfreier Biere - und die inzwischen oft verblüffende sensorische Ähnlichkeit zum traditionell erzeugten Bier zeigt: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Weine ohne Alkohol aus dem Schatten treten werden.