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Schloss Johannisberg (Foto: DWI)

Den einst großen Ruf der erstmals 1775 in Schloss Johannisberg dokumentierten Spätlese haben die gezuckerten Massenweine der 60er und 70er Jahre gründlich ruiniert. Der Glykolskandal 1985 war der Schlusspunkt des Abstiegs in die unterste Spielklasse im Qualitätswettbewerb. Übers Meer der süßen Billigprodukte zog schließlich die große Welle der trockenen Weine, an deren Scheitel sich nun die Wiederentdeckung der Spätlese formiert.

Publikum bei der „Spätlese-Renaissance“ (Foto: U. Kauss)

Der Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) lud zum zweiten Mal zur „Spätlese-Renaissance“, einer bestens besetzten Publikumsverkostung in Köln. Fast 40 VDP-Güter aus den Anbaugebieten Rheinhessen, Rheingau, Nahe, Mittelrhein und Mosel waren dazu am 20. November 2011 ins Foyer der Oper gekommen. Sie zeigten neben fruchtsüßen Kabinettweinen die Spätlesen des Jahrgangs 2010 und zudem gereifte Jahrgänge bis ins Jahr 1976. „Die Weine offenbaren ihre Güte oft erst nach einigen Jahren Flaschenreife. Es ist uns sehr wichtig, diesen Aspekt dem Publikum nahe zu bringen“, erklärt Ideengeber Armin Diel, Winzer vom Schlossgut Diel und Vorsitzender des VDP Nahe, der 2010 zum ersten Mal die Spätlese-Leistungsschau organisierte.

Armin Diel (Foto: Foto: U. Kauss)

Der Publikumsandrang war überraschend groß: Dicht gedrängt standen Weinfreunde und -profis an den aufgereihten Tischen der Winzer und warteten gelegentlich geduldig, bis sie verkosten konnten. Eine Nischenveranstaltung mit familiärem Charakter war das jedenfalls nicht.

Das Große Gewächs ist eine Spätlese

Doch was ist im neuen Jahrtausend eine deutsche Spätlese? Diese Frage lässt sich nicht mehr so einfach beantworten. Ist sie süß? Manchmal, aber nicht immer. Laut Weingesetz beginnt die Spätlese-Ernte ein bis zwei Wochen nach dem von der Gemeinde festgelegten Erntetermin, die Trauben müssen vollreif sein und der Most einen Zuckergehalt im Schnitt zwischen 76 und 95 Grad Oechsle (in Baden) aufweisen – je nach Anbaugebiet gibt es hier Abweichungen. Daraus produzierten immer mehr Betriebe in den vergangenen Jahren trockene Spätlesen und erzielten damit große Erfolge. Der VDP ging in seiner Klassifikation einen Schritt weiter: Der trockene Wein aus einer Ersten Lage muss demnach das Mostgewicht der gesetzlichen Spätlese erreichen – wird aber „Großes Gewächs“ genannt. Erst wenn der Restzucker des Weins aus Erster Lage über der Definition von „trocken“ liegt, darf er die Bezeichnung „Spätlese“ tragen. Mit den trockenen Spätlesen der Betriebe, die nicht dem VDP angehören, lassen sie sich daher nur selten vergleichen.

Mostgewicht, Mineralität und Harmonie

 

Oliver Müller% Gut Hermannsberg (Foto: U. Kauss)

Viele Weine, die in der Kölner Oper ausgeschenkt wurden, stammen aus Trauben mit Mostgewichten von weit über 100 Grad Oechsle. Gesetzlich wären sie damit Auslesen oder gar Beerenauslesen, wurden aber von den Betrieben zur Spätlese deklassiert. Ihr Restzuckergehalt lag zwischen 15 und weit über 150 Gramm. Hier zeigt sich, dass Zucker und Erntezeitpunkt allein heute keine gültigen Kategorien mehr sind. Oliver Müller von Gut Hermannsberg an der Nahe erzählt, dass er mit seinem Weinmacher Karsten Peter entschieden habe, die beiden Spätlesen nicht mehr in ihren renommierten Top-Lagen Hermannberg und Kupfergrube zu produzieren, sondern in den weniger bekannten Ersten Lagen Rotenberg und Steinberg. „Nur dort erreichen wir eine besondere Mineralität, die hervorragend zu unserer Spätlese passt. Balance und Harmonie sind dabei das wichtigste.“

Die späte Lese spielt fast keine Rolle mehr

Die immer weiter steigenden Sommer- und Herbsttemperaturen lassen den Wortsinn des Begriffs „Spätlese“ als Worthülse zurück. In einigen Jahren des vergangenen Jahrzehnts hätte nur eine frühe Ernte die Einhaltung der geltenden Oechsle-Werte gerettet. „Das spielt doch alles seit über zehn Jahren keine Rolle mehr“, bestätigt Matthias Müller aus Spay am Mittelrhein, den der Gault Millau zum „Winzer des Jahres 2012“ kürte. „In den 70er Jahren kamen hohe Mostgewichte nur alle paar Jahre vor. Heute ernten wir selbst die einfachen Weine mit Mostgewichten, die früher die Ausnahme waren.“ Müllers Spätlesen des Jahres 2010 entstanden aus Trauben in Auslese-Qualität, mit 80 bis 150 Gramm Restzucker gegen die jahrgangstypisch hohen Säurewerte von über zehn Gramm pro Liter. Mit Maischestandzeiten bringt er Extrakt und Mineralität in seine Weine.

 

Lese im Rheingau (Foto: DWI)

Daran zeigt sich, wohin die Reise gehen könnte: Der Zucker fügt den aromatischen Komponenten von Frucht, Mineralität und Säure eine vierte Dimension hinzu. Sind die Komponenten in Balance, entsteht ein Weintyp, der an alte Traditionen anknüpft, aber ein neues, komplexes Weinerlebnis vermittelt: mal zart, mal opulent, mal mineralisch, mal fruchtbetont. Nach einigen Jahren Flaschenreife eignen sich viele dieser Spätlesen nicht nur zu manchen asiatischen Speisen (die asiatische Küche existiert mindestens ebensowenig wie die europäische), sondern auch zu deftiger Wurst, zu Käse und sogar geschmortem Fleisch, zumindest, solange sie nicht übertrieben süß sind.

Die neue Spätlese – ein Komplexitätswunder?

Die traditionelle Spätlese demonstrierte ihre Besonderheit aus einem großen Jahr vor allem durch Süße. Das ist nun Vergangenheit – wie das Wirtschaftswunder, für das sie wie kein anderer Wein steht. Erntezeitpunkte, Temperaturen, Weinbautechniken und Weingeschmack haben sich völlig verändert. Süße ist nicht mehr seltener Luxus, sondern einfach eine optionale Geschmackskomponente. So ist es Zeit für die dritte Generation der Spätlese: Nach Luxuswein und Billigplörre kommt nun das Komplexitätswunder. Die Preise der Spitzenweine steigen weiter. Eine Renaissance? Im Wortsinn einer Wiedergeburt: ja. Doch nun muss sie erwachsen werden.

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