Die Zeit, in der selbst standhafte Rotweintrinker zum Äußersten schreiten und zum Weißen greifen, ist da, lange schon angekündigt durch massive Werbung: „Der ideale Sommerwein“ oder „So schmeckt der Sommer“ oder – immer häufiger – in englischer Sprache: „Summer in the City“. Klingt doch ganz poetisch, verführerisch, ja geradezu melodiös. Ich erinnere mich an einen Song der späten 1960er Jahre: „Summer Wine“, eine Liebesgeschichte, die nicht ganz harmonisch endet. Sinnbild für den Sommerwein?
Mein Weinhändler meint dazu: „Drei Bedingungen muss er erfüllen, der gute Sommerwein. Wenig
Alkohol darf er haben,
aromatisch, dicht und frisch muss er sein.“ Da fallen die schweren
Rotweine, die ich sonst oft trinke, von vornherein weg; selbst die leichten
Rotweine haben es schwer, allein schon wegen ihrer Farbe. Liebe und
Wein, eine schöne Begegnung, doch ihre
Farbe soll nicht rot wie
Blut, schon eher
rosa sein. „Sie stand so da und fragte: Bist du auch allein? Komm mit und trink ein Glas Sommerwein..." Natürlich komm ich mit auf ein Glas
Sommerwein, auch wenn ich jetzt schon weiß, wie die Fast-Moritat ausgehen wird. Man hat sie mir in den letzten Jahren oft genug vorgesungen, in vielen Variationen und mit unterschiedlichen Interpreten: „...Oh – Sommerwein...“
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Mein
Sommerwein ist natürlich rosarot, charmanter ausgedrückt: rosé. Jeden Sommer entfacht sich meine Liebe aufs neue.
Rosé, am liebsten zu einem aus der Provence. Ist auch das ein Klischee, wie jenes vom
Sommerwein? Muss es
Rosé sein und muss er aus der
Provence kommen, als ob es nicht in vielen Weingebieten gute Sommerweine gäbe? Zum Beispiel im
Bordelais den
Clairet, in
Spanien den
Rosado, in der
Schweiz den „Oeil de Perdrix“ (
Rebhuhnauge)… Mein Liebling aber schlummert – ich gebe es zu – in einer bauchigen und trotzdem eleganten
Flasche von den
Côtes de
Provence, vom
Château De Seil in Taradeau. „Ich sah sie an [in meinem Fall die Flasche] und hoffte, dass noch mehr passiert, dass sie vielleicht heut Nacht ihr Herz an mich verliert...“ – (oder umgekehrt). Doch die Nacht bricht noch lange nicht an; Abende sind jetzt lang, Nächte
kurz geworden. Und plötzlich plagt mich das schlechte Gewissen. Darf ein „leichter Wein“ so viel kosten? Sind 39 „Schweizerfränkli“ nicht doch zu viel für ein sommerliches Kurzvergnügen? „Erdbeeren, Kirschen und der Kuss eines Engels im Frühling, das sind die
Zutaten für meinen Sommerwein.“
„Coeur de Grain“ („Herz des Korns“) nennt sich mein Sommerwein, hat also doch etwas mit dem Herzen zu tun: „Ich würd so gern mit dir heut Nacht noch zärtlich sein, doch du willst ständig mehr vom Sommerwein.“ Man ahnt schon das Verhängnis. Mein Weinhändler aber meint: „Es ist ein gehaltvoller Rosé fürs ganze Jahr.“ Nicht nur für einen lauen Sommerabend, viel zu finessenreich und im Abgang lang, unendlich lang. Im Sommer aber sind die Nächte kurz; zu kurz für einen langen Abgang?

„Man trinkt ihn langsam und am besten nicht zuviel, mein
Sommerwein lässt mich oft tun, was ich nicht will.“ Eigentlich will ich jetzt nicht noch zu einem Weißen greifen, nicht zu einem
Riesling oder
Chardonnay, den Königinnenen unter den weißen Rebsorten. Etwas Unverbindliches soll es sein, trotzdem leicht,
spritzig und würzig. Ich denke an Zitrusfrüchte. Allein der Gedanke bringt schon Labung. Ein
weißer Bordeaux, vielleicht vom
Château du Cros, ein Sauvignon. Den
Wein hat mir mein
Händler irgendwann mal „angedreht“. Er – der
Wein – soll
rassig und trocken sein, gerade richtig für einen Sommerabend.

„Ich sagte: Hey, ich würd jetzt doch ganz gerne gehn. Doch als ich aufstand, konnte ich schon nicht mehr stehn.“ Oh nein, so soll es mir nicht ergehen. Darum stell ich die Flasche weg und wende mich mit den Anpreisungen zu, die in den letzten Wochen – ungefragt – täglich in meinem Briefkasten landen. Da beherrschen – schon fast eintönig – immer wieder die gleichen Eigenschaften das sensorische Feld: frisch, offen, saftig, leichtfließend, fruchtbetont, belebend, aromatisch, leicht, leicht, leicht… „Sie hat mich zugedeckt und ich schlief sofort ein und träumte lange noch vom Sommerwein. Oh... Sommerwein.“
Der Song endet aber nicht ganz so friedlich, wie der Traum erhoffen lässt. „Als ich wieder erwachte, schien mir die
Sonne in die Augen. Meine silbernen
Sporen waren weg und mein Kopf fühlte sich an, als wäre er doppelt so groß.Sie hatte meine silbernen
Sporen gestohlen, einen Dollar und mein letztes 10-Cent-Stück, und sie ließ mich zurück mit meinem Verlangen nach noch mehr Sommerwein“, so in der Urfassung. In späteren Versionen wurde diese Strophe weggelassen oder abgeändert. Verständlich. Ein
Sommerwein soll doch kein enttäuschendes Abenteuer sein. In vielen Fällen ist er es aber, leider… Der Trost der geheimnisvollen Lady (auch nur in der Urfassung): „Nimm deine silbernen
Sporen ab und hilf mir die Zeit zu vertreiben, dann bekommst du auch etwas von meinem Sommerwein.“
Herzlich
Ihr/Euer