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Woran erkennt man die Trinkreife?
Es gibt nur eins, das schlimmer ist, als einen Wein zu früh zu trinken: ihn zu spät zu trinken. Das höchste Genusserlebnis ist es, einen Wein auf seinem Höhepunkt zu trinken: dann, wenn er seine optimale Trinkreife erreicht hat. Aber wann ist das?
Der Moment der optimalen Trinkreife kann für jeden Weinfreund unterschiedlich sein – je nach seinen persönlichen Vorlieben. Jeder gute Wein durchläuft im Laufe seines „Lebens“ nach der Abfüllung verschiedene Phasen, in denen er seine Aromatik und auch seine Textur verändert. Viele Menschen bevorzugen junge, fruchtbetonte Weine mit frischem Duft und harmonischem Geschmack, andere mögen eher gereifte Weine, die sich durch komplexe, weniger primärfruchtige Aromen auszeichnen, dafür aber besonders nachhaltig sind.
Antizipation des Reifeverhaltens
Das Reifepotenzial eines Weins kann man oft bereits am Etikett erkennen – wenn man es zu lesen versteht. Hat man mehrere Flaschen eines Weins und möchte herausfinden, wie lange er voraussichtlich mit Genuss trinkbar ist, kann man der Einfachheit halber auch ein sensorisches Experiment durchführen:
Um abzuschätzen, wie sich ein Wein in der Zukunft entwickelt, setzt man ihn kontrolliert der Luft aus, indem man ihn in der geöffneten Flasche oder einer Karaffe einige Stunden oder sogar länger stehen lässt (gegebenenfalls gekühlt). Denn der Sauerstoffeinfluss ist die Hauptursache für die Aromen- und Texturveränderung des Weins über die Zeit. Ein Wein, der nach einem, zwei oder drei Tagen in der geöffneten Flasche ´oder in der Karaffe nicht an Ausdruckskraft verliert oder sogar noch besser (komplexer, harmonischer, geschmeidiger) wird, hat ein großes Reifepotenzial (mehr als fünf Jahre).
Dieses Experiment sollte man allerdings vornehmlich mit jüngeren Weinen machen. Alte Weine, die schon mehr als ein Jahrzehnt in der Flasche hinter sich haben, brechen mit Luft oft schnell und unaufhaltsam ein. Ein junger Wein, der an der Luft nur wenige Stunden überlebt, hat kein Reifepotenzial und sollte innerhalb der nächsten Monate getrunken werden.
Mindestens 80 Prozent aller auf der Welt erzeugten Weine sind zum Genuss innerhalb der ersten ein bis zwei Jahre nach der Ernte bestimmt. Diese Weine erreichen ihre Trinkreife bereits in sechs bis acht Wochen nach der Abfüllung. Dabei handelt es sich meistens um Basis-, Liter- oder Gutsweine, die unkompliziertes Trinkvergnügen bescheren sollen. Diese Weine durchlaufen auch keinen langen oder in einzelne Phasen einteilbaren Lebenszyklus: Sie sind von Fruchtaromen geprägt, gegebenenfalls ergänzt durch eine dezente Würze, und sie zeigen sich von Anfang an harmonisch, was Säure und/oder Tannin betrifft.
Nach einem oder zwei Jahren gehen die Fruchtaromen zurück, die Frische verschwindet, der Wein wird unharmonisch und stumpf, er riecht und schmeckt „alt“. Dann möchte man ihn nicht mehr trinken und sollte es auch nicht mehr tun. Inzwischen sollte ja schon wieder mindestens ein neuer, frischer Jahrgang verfügbar sein.
Anhaltspunkte für das Reifepotenzial
Erkennbar sind solche schnell trinkfähigen Weine meistens daran, dass die Rebsorte groß auf dem Etikett steht und dass es keine komplizierte Herkunftsbezeichnung (Orts- oder Einzelagenname) gibt. Die Herkunftsbezeichnung ist insofern bereits ein Anhaltspunkt für das Reifepotenzial eines Weins.
Die Herkunft bemisst sich nach der Größe des Gebiets, aus dem die Trauben für den Wein stammen. Für diesen geografischen Rahmen gibt es ebenso eindeutige Vorschriften wie für die Herstellung des Weins selbst. Als Faustregel gilt dabei: Je enger die Herkunft, also je kleiner das Gebiet, desto höher ist die Qualität des Weins und desto größer ist sein Reifepotenzial. Das hängt mit weiteren Faktoren zusammen, die sich mittelbar an der Herkunftsbezeichnung ablesen lassen. Denn nur dann, wenn der Wein bestimmte Qualitätsvorgaben erfüllt, darf er eine geschützte Herkunftsbezeichnung tragen.
Einer der wichtigsten Qualitätsfaktoren für Wein ist die Menge der produzierten Trauben, der Ertrag. Je weniger Trauben ein einzelner Rebstock trägt, desto mehr Extraktstoffe enthält jede einzelne Beere, und je höher der Extrakt, desto höher sind die Qualität und das Reifepotenzial des Weins. Die Höchstmenge der produzierten Trauben ist für jede geschützte Herkunftsbezeichnung genau definiert: Je geringer die maximale Erntemenge, desto besser und reifefähiger der Wein.
Die höchste Qualität und das größte Reifepotenzial haben Weine, deren Trauben aus einem einzelnen Weinberg oder einer einzelnen Parzelle stammen. In Deutschland hat der Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) die Weinberge nochmals klassifiziert; die hochwertigsten Weine stammen aus sogenannten Ersten Lagen und Großen Lagen. In Österreich sind herkunftsgeschützte Weine mit DAC-Status besonders reifefähig. In den romanischen Weinbauländern Europas (Frankreich, Italien, Spanien, Portugal) wird die Enge der Herkunft mit dem AOP- bzw. DOP-Status angegeben. Weine, die den Namen einer Einzellage und/oder eine geschützte Herkunftsbezeichnung (DAC, AOP, DOP, AOC, DOC, DOCG, DO, DOCa) auf dem Etikett tragen, haben also eine höhere Qualität und ein größeres Reifepotenzial als Weine ohne einen solchen Herkunftsschutz.
Ein weiteres Kriterium für die Weinqualität und das Reifepotenzial kann ein Prädikat sein, also eine Zusatzbezeichnung. Prädikate sind nur für deutsche und österreichische Weine relevant und richten sich nach der Reife der Trauben im Weinberg. Daraus ergibt sich das Mostgewicht, d. h. die Summe der gelösten Extraktstoffe (maßgeblich der Zuckergehalt) in den Beeren. Wiederum gilt: Je höher der Extrakt, desto höher sind die Qualität und die Reifefähigkeit. Die wesentlichen Prädikate sind Kabinett, Spätlese, Auslese, Beerenauslese, Trockenbeerenauslese und Eiswein.
Phasen des Reifeprozesses
Ein Wein, der durch seine geschützte Herkunftsbezeichnung bereits auf dem Etikett seine Qualität und sein Reifepotenzial dokumentiert, kann sich über mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte in der Flasche entwickeln. Dabei durchläuft er, wie bereits erwähnt, unterschiedliche Phasen.
Ein junger Wein ist so wie ein kleines Kind: ungestüm, ein bisschen wild, charakterlich noch nicht fertig entwickelt. Die einzelnen Komponenten (Frucht, Säure, Tannin, evtl. Holz) sind noch nicht eingebunden und stehen vielleicht noch „nebeneinander“: Jede Komponente ist für sich präsent und identifizierbar. Vor allem die Säure kann in dieser Phase ziemlich dominant (mitunter spitz) sein; ebenso das Holz, das mit Rauch-, Röst-, Vanille- und Karamellnoten alle anderen Aromen übertönen kann, sowie bei Rotweinen das Tannin, das ein pelziges, trocknendes Gefühl auf der Zunge hinterlässt. Die Frucht ist in dieser Phase intensiv ausgeprägt und erinnert an frisches Obst, je nach Rebsorte auch Gemüse oder andere Pflanzen.
Nach einer gewissen Zeit kommt der Wein in die „Pubertät“: Er wird unzugänglich, verschließt sich und wird unharmonisch. In dieser Phase findet ein chemischer Umbau statt. Die einzelnen Inhaltsstoffe reagieren miteinander, Aromenverbindungen werden aufgelöst und neu verknüpft, die Frucht geht zurück, Säure, Tannin und Holz werden allmählich eingebunden. In dieser Phase, die in der Regel mehrere Jahre dauert, ist der Wein kein Genuss und eigentlich untrinkbar. Er braucht einfach Ruhe und soll sich im Keller ungestört entwickeln.
Nach Abschluss des Umbaus ist der Wein gewissermaßen erwachsen. Die einzelnen Komponenten (Frucht, Säure, Tannin, Holz) sind jetzt harmonisch miteinander verbunden, neue Aromen sind hinzugekommen, der Wein ist komplexer und eleganter geworden und hat sein inneres Gleichgewicht gefunden; der Charakter ist voll ausgebildet. Die Fruchtaromen sind jetzt weniger vordergründig, sondern etwas zurückhaltender, dafür vielschichtiger. Im Laufe der weiteren Reifephase nehmen sie immer mehr zugunsten „herbstlicher“ Aromen (Nüsse, Erde, Pilze, Laub) ab. Das Tannin wird mürbe, die Textur sanft, weich und vollmundig. Die Farbe wird dunkler: goldgelb bei Weißweinen, bräunlich bei Rotweinen.
Danach folgt die Degenerationsphase: Der Wein „stirbt“ langsam. Die Farbe verliert ihren Glanz und wird immer dunkler (bernsteinfarben bis braun bei Weißweinen, ziegelrot bis rotbraun bei Rotweinen), die Frucht verschwindet völlig, die Aromatik geht immer stärker ins Erdig-Würzige und wird schließlich diffus und dumpf; die Textur wird allmählich stumpf, das Tannin spröde, die einzelnen Komponenten lösen sich wieder aus ihrer Verbindung, Säure und Bitterstoffe bleiben letztlich als „Skelett“ übrig.
Reifephasen erkennen
Insofern lassen sich – wie hier ja bereits geschehen – Analogien zwischen der Entwicklung eines Weins und den Lebensabschnitten eines Menschen oder der Abfolge der Jahreszeiten ziehen. Die optimale Trinkreife hat ein Wein in seinem Erwachsenenzeitalter bzw. in seinem „Sommer“. Diese Phase nimmt bei hochwertigen Weinen die längste Zeit in ihrem „Leben“ ein und erstreckt sich über etliche Jahre. Daher ist die Trinkreife auch eigentlich kein Zeitpunkt, sondern ein Zeitraum. Um diesen abzupassen, kann man sich an den oben genannten Anhaltspunkten orientieren. Ein wirklich guter Wein hält mindestens fünf Jahre, viele auch ein Mehrfaches davon. Dabei kommt es allerdings stets auch auf die Lagerbedingungen an, unter denen der Wein gereift ist. Im Zweifelsfall hilft nur eins: ausprobieren!
Wenn ein Wein die oben beschriebenen sensorischen Eigenschaften aufweist, kann man in etwa erahnen, in welcher „Lebensphase“ er sich gerade befindet. Ist er noch in der Jugend, kommt das eingangs skizzierte Experiment wieder zum Tragen: karaffieren und über mehrere Stunden „atmen“ lassen, also der Luft aussetzen. Ist er gerade in der „Pubertät“, kann man es ebenfalls mit einigen Stunden Sauerstoffeinfluss versuchen, doch eine positive Veränderung ist in dieser schwierigen Phase nicht garantiert. Die Trinkreife erkennt man sensorisch sofort, wenn der Wein „erwachsen“ geworden ist: Harmonie, Komplexität, Länge… Dann über mehrere Stunden beseelt genießen! Und wenn der Wein seinen Zenit bereits überschritten hat und nur noch einigermaßen gebrechlich im Glas liegt: das Beste daraus machen und so schnell trinken, wie er noch genießbar ist. Von alten, bereits in Degeneration befindlichen Weinen hat man zwar nicht den größten Genuss, doch man kann am meisten von ihnen lernen. Doch bereits verstorbene, sensorisch tote Weine kann man bitte nur umgehend entsorgen, wenn auch mit angemessenem Bedauern.
Die meisten Weinführer und Kritiker geben explizite Trinkempfehlungen: Sie benennen den Zeitraum, innerhalb dessen sich der betreffende Wein bei sachgemäßer Lagerung (dunkel, eher kühl und bei konstanter Temperatur) voraussichtlich positiv oder zumindest nicht negativ entwickeln wird. Darüber hinaus bieten beispielsweise das Weinmagazin „Vinum“ oder der „Kleine Johnson“ des britischen Weinkritikers Hugh Johnson detaillierte Trinkreifetabellen für die Jahrgänge in einzelnen Weinbaugebieten.