Rudolf Steiner (1861-1925) war Begründer der Anthroposophie und gilt als Vater der Biodynamie.
Rudolf-Steiner-Archiv1924 begründete Rudolf Steiner die biodynamische Landwirtschaft. 100 Jahre später produzieren immer mehr Winzer nach diesen Ideen. Ist die Wirksamkeit der oft esoterisch anmutenden Methoden wissenschaftlich belegbar? Raffaella Usai klärt auf.
Rudolf Steiner, der geistige Vater der Biodynamie, ist bis heute eine polarisierende Persönlichkeit. Von den einen wird er als esoterischer Schwurbler abgestempelt, von den anderen als Universalgenie gefeiert. Seine acht Vorträge, die er im Juni 1924 auf Gut Koberwitz in Schlesien hielt, gelten als Geburtsstunde der biodynamischen Landwirtschaft – obwohl Steiner selbst diesen Begriff nie verwendete. Der sogenannte „Landwirtschaftliche Kurs“ stellt aber den geistigen Überbau dieser Landbau-Methode dar, die auch 100 Jahre danach von Winzern und Landwirten weltweit praktiziert wird.
Doch wie kam es Anfang der 1920er Jahre zu diesen Ideen? Steiners Theorien und Lösungsansätze müssen in den historischen Kontext eingebettet werden. Streiks, soziale Unruhen: In der Weimarer Republik herrschte politisches Chaos und ab 1922 eine enorme Inflation, die Hungersnot mit sich brachte.
Auch in der Landwirtschaft war eine neue Ära angebrochen. Der Einsatz von künstlich synthetisiertem Stickstoff und großen Mengen chemischen Düngers markierte den Übergang von bäuerlich-traditioneller zu industrieller Landwirtschaft. Die Fruchtbarkeit der Böden begann zunehmend darunter zu leiden, die Qualität des Saatguts und der Nahrungsmittel ging zurück. Bereits 1920 wurde Steiner vom BASF-Chemiker Dr. Streicher zur Problematik der Mineraldüngung kontaktiert. Infolgedessen entwickelte er erste Ideen zu Kompost-Präparaten, die den Boden wieder lebendiger machen sollten.
Landwirte und Wissenschaftler in Steiners Umfeld wie Ernst Stegemann, Ehrenfried Pfeiffer und Günther Wachsmuth suchten nach Antworten. Sie entwickelten Heilmittel gegen die grassierende Maul- und Klauenseuche und verzichteten auf Kunstdünger, um die Bodenfruchtbarkeit zu verbessern. Einigen von ihnen ging es auch um spirituelle Fragen im Zusammenhang mit der Gesundheit von Pflanzen und Tieren, andere legten den Fokus auf ökonomische Aspekte.
Beim Hornmistpräparat wird Kuhmist in ein Kuhhorn gefüllt, das über den Winter im Boden vergraben wird.
respekt-biodyn, by PittnauerDer landwirtschaftliche Unternehmer Carl Graf von Keyserlingk lud Steiner schließlich auf sein Gut nach Koberwitz ein, um die landwirtschaftliche Erneuerung aus dem Geist der Anthroposophie („Weisheit des Menschen“) heraus voranzutreiben. Dort stellte Steiner den rund 130 Teilnehmern seine Idee des geschlossenen Betriebsorganismus vor, der keine Stoffe von außen benötigt, sondern mit einem internen Futter-Dünger-Kreislauf arbeitet. Zudem sprach er von der großen Bedeutung der kosmischen Rhythmen, ein von Skeptikern oft als zu spirituell empfundener Bestandteil seiner Überlegungen. „Steiner lieferte mit dem ‘Landwirtschaftlichen Kurs’ ein hochmodernes, ganzheitliches Modell, das es vorher so nicht gab“, sagt Dr. Georg Meißner, Önologe und Dozent an der Hochschule Geisenheim sowie Deutschlands bekanntester Berater für biodynamischen Weinbau.
In Koberwitz kamen auch die Präparate ins Spiel, die als das Herzstück der biodynamischen Landwirtschaft gelten. Sie sollen das Bodenleben stimulieren und das Wurzelsystem der Pflanzen kräftigen. Die bekanntesten sind die beiden Feldspritzpräparate Hornkuhmist und Hornkiesel. Für das Hornkuhmist-Präparat wird Kuhmist in ein Kuhhorn gefüllt, das über den Winter im Boden vergraben wird. Beim Hornkieselpräparat hingegen wird feinst gemahlener Quarz (Bergkristall) in Hörner gefüllt, aber über den Sommer in den Boden eingegraben. Nach dem Ausgraben werden die Präparate in Regenwasser eine Stunde lang in wechselnder Drehrichtung gerührt. Dieses Verfahren nennt man „dynamisieren“. Anschließend werden sie ausgebracht. Daneben gibt es eine Reihe von Kompostpräparaten aus Heilpflanzen (Schafgarbe, Kamille, Brennnessel, Baldrian u.a.), die die Nährstoffverfügbarkeit verbessern sollen.
Hornkiesel und Hornmist werden in Wasser rhythmisch verrührt.
respekt-biodyn, by Andreas HoferDoch Rudolf Steiner lieferte nur den geistigen Impuls. Es waren Praktiker, die seine Ideen in die Tat umsetzten und die Wirkungen der Präparate beobachteten. So war Forschung seit den Anfängen der biodynamischen Wirtschaftsweise von zentraler Bedeutung. Steiner selbst ermutigte Landwirte und Wissenschaftler, die Methoden systematisch zu untersuchen und zu verbessern. Bereits an der Tagung in Koberwitz wurde der Versuchsring gegründet, aus dem später der Demeter-Verband hervorgegangen ist. Ein weiterer wichtiger Meilenstein war 1946 die Einrichtung des Instituts für Biologisch-Dynamische Forschung e.V. in Darmstadt, das heute als Forschungsring Projekte der biodynamischen Bewegung in Deutschland und darüber hinaus koordiniert.
Seitdem haben viele wissenschaftliche Studien die Effektivität biodynamischer Techniken bestätigt. Nennenswert sind hier vor allem die DOK-Versuche, ein Langzeit-Forschungsprojekt zur Untersuchung der ökologischen und biodynamischen Landwirtschaft im Vergleich zur konventionellen Landwirtschaft. „DOK“ steht dabei für dynamisch (biodynamisch), organisch (biologisch) und konventionell. Die Versuche wurden 1978 in der Schweiz vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) initiiert und sind bis heute eines der renommiertesten wissenschaftlichen Projekte, um die Langzeitwirkung dieser verschiedenen Anbaumethoden zu bewerten. Sie haben gezeigt, dass die biodynamische Wirtschaftsweise nicht nur bei der Lebendigkeit der Böden, sondern auch bei Nachhaltigkeit und Klimabilanz den anderen Anbaumethoden überlegen ist.
Weitere Studien zeigen, dass biodynamische Landwirtschaft die Biodiversität fördert, den Humusgehalt im Boden steigert und die langfristige Gesundheit von Böden unterstützt. Biodynamisch bewirtschaftete Böden besitzen eine höhere mikrobiologische Aktivität als konventionell bearbeitete. Das weist auf eine bessere Verfügbarkeit und Zirkulation der Nährstoffe hin.
Auch an der Hochschule Geisenheim wird seit 2006 zum Thema geforscht. Im ersten „Inbiodyn”-Versuch wurden streng voneinander getrennte Parzellen untersucht, die konventionell nach integrierten Richtlinien, bio-organisch und biodynamisch bewirtschaftet werden. 2022 wurde ein zweiter Versuch gestartet: „Inbiodyn 2.0“. Laut den Geisenheimer Forschern verfestigen sich die Hinweise, dass biologisch und biodynamisch bewirtschaftete Reben besser mit Trockenstress umgehen. Die Pflanzen passen sich durch die Etablierung der vielseitigen Begrünungen offenbar über einen längeren Zeitraum besser an die Trockenheit an. Dies können viele Winzer aus ihrer Praxis bestätigen. „Ich beobachte, dass die Reben der biodynamisch arbeitenden Weingüter auf Sizilien sich vor allem in den vergangenen Dürre-Jahren besser an die Trockenheit adaptiert haben“ sagt Mattia Filippi von der Beratungsfirma Uva Sapiens.
Eine im Februar 2024 veröffentlichte Studie, an der unter anderem die Hochschule Geisenheim, der Forschungsring und die Universität Kassel beteiligt waren, beschäftigt sich mit den komplexen Auswirkungen der Präparate auf die mikrobielle Biomasse und die Bodenatmung. Die Wissenschaftler führten mehrere Biomarker-Experimente an drei Standorten in Deutschland und 21 Standorten in Frankreich mit unterschiedlichen Kulturen und Bodentypen durch. Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass biodynamische Präparate als Bio-Dünger wirken, indem sie die Bodengesundheit durch pflanzenwachstumsfördernde Mikroorganismen verbessern.
Und doch sehen viele Kritiker die Biodynamie als Esoterik an, da sie eine spirituelle Dimension des Lebens umfasst, die für wissenschaftlich orientierte Menschen schwer nachvollziehbar und nicht belegbar ist. Steiners Erkenntnisse und teils schwer verständliche Texte werden oft als Widerspruch zur modernen Wissenschaft und Rationalität wahrgenommen. Dies, weil seine Wissenschaft auf intuitivem und teils bäuerlichem Wissen basiert, was im Gegensatz zu den empirischen Methoden der Naturwissenschaften steht. Doch ist alles, was wir nicht messen können, tatsächlich esoterisch?
„Die Biodynamiker haben sich lange Zeit selbst in eine Ecke gedrängt und wurden immer nur als die mit den Kuhhörnern und dem Mondkalender angesehen. Aber es steckt ein ganzheitlicher, systemischer Ansatz dahinter“, sagt Georg Meißner.
Biodynamie wird zwar oft als spirituell betrachtet, beruht aber auch auf fundierten wissenschaftlichen Prinzipien. So fußt sie auf kosmischen Rhythmen, die nicht irrational sind, sondern auf Beobachtungen der Naturzyklen beruhen, die nachweislich bestimmte biologische Prozesse beeinflussen. „Die Auswirkungen von Rhythmen sind durchaus messbar, da gibt es unzählige naturwissenschaftliche Ergebnisse. Das ist kein Hokuspokus“, erklärt Georg Meißner. In einem ganzheitlichen, selbstregulierenden Organismus stehen Pflanzen, Tiere, Boden und Mensch in einem ausgewogenen Zusammenspiel. Aber der Mensch macht laut Steiner den Unterschied.
Seit den 1980er-Jahren entscheiden sich weltweit immer mehr Winzer, auf biodynamische Bewirtschaftung umzustellen. Darunter Pioniere wie Anne-Claude Leflaive und Nicolas Joly, aber auch Spitzenbetriebe wie Domaine Leroy und Romanée Conti in Burgund, Château Pontet-Canet (Pauillac), Château Palmer (Margaux), Dr. Bürklin-Wolf (Pfalz), Lageder und Manincor (Südtirol) sowie viele andere. Aber warum? „Den Châteaux ging es nur um Qualität. Das waren keine überzeugten Anthroposophen. Der Biodyn-Berater Pierre Masson hat damals sehr viele französische Spitzenbetriebe bei der Umstellung begleitet, ich war oft mit ihm unterwegs. Er hat immer nur einige Rebzeilen mit den Präparaten behandelt und dann haben die Winzer die Unterschiede und die Lebendigkeit der Reben mit eigenen Augen gesehen. Am Ende waren sie alle von der Methode überzeugt“, sagt Georg Meißner.
Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass die Qualität der Trauben, der Zuckergehalt, die phenolische Reife und die Aromenvielfalt unter biodynamischen Bedingungen verbessert werden können. Aber Achtung: Nicht jeder Biodyn-Winzer ist ein begnadeter Weinmacher. Die Aussage, dass biodynamische Weine per se besser seien als konventionelle oder „nur“ biologische, ist schlichtweg falsch. Biodynamische Weine können zwar oft durch eine höhere Qualität und einen starken Terroir-Bezug punkten, aber sie sind nicht automatisch besser als konventionelle Weine.
Auch muss betont werden, dass jeder Winzer seine individuelle Herangehensweise an die biodynamische Praxis hat. Nicht alle haben die spirituellen Überlegungen verinnerlicht, die dahinter stehen, sondern sie verfolgen ganz pragmatische Ziele, die sie im Weinberg beobachten können, wie beispielsweise stärkere und resilientere Reben.
Für Steiner sollte der Landwirt das Bodenleben und nicht die Pflanzen nähren.
Serra Ferdinandea„Der Landwirtschaftliche Kurs ist als ein Impuls zu sehen und nicht als Dogma. Steiner wollte, dass seine Ideen weiterentwickelt und an die unterschiedlichen Gegebenheiten angepasst werden. Sie dürfen auch an den Standort angepasst werden, jeder muss seine individuelle Balance finden“, sagt Georg Meißner. Es gebe immer noch viele Dinge aus dem Landwirtschaftlichen Kurs, die bis heute nicht ganz verstanden wurden. Und so haben viele Pioniere die Biodynamie in ihren Ländern weiterentwickelt. Und das werden sie auch in Zukunft tun.