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Es ist nicht ganz leicht, das Einfache gut zu finden, das ganz Gewöhnliche, das Alltägliche, und erst noch glücklich zu sein, wenn wir es gefunden zu haben. Wir haben es längst aus unserem Leben verbannt, suchen das Außerordentliche, das Einmalige, das Besondere und merken nicht, dass das Besondere inzwischen auch alltäglich, zumindest gewöhnlich geworden ist. Diese Lebenserfahrung – sie mag noch so altklug anmuten – trifft auch bei der Suche nach den besten, den außerordentlichsten Weinen zu. Da sitze ich bei herrlichstem Herbstwetter auf der Terrasse eines Schlosses, das längst zum Museum geworden ist. Vor mir steht ein Glas Wein, weiter unten liegt ein kleiner Schlossrebberg, der in den letzten Jahren wieder angelegt wurde. Kein Renditegarten, vielmehr eine Reminiszenz an die Zeiten, in der Wein in die Gegend gekommen ist. Doch alles wird dominiert von einer offenen Landschaft, in der sich Dörfer und Weiler dicht aneinander schmiegen und waldige Hügel den Horizont begrenzen. Darüber der blaue, leicht in Dunst getauchte Himmel. Wieder kommt mir in den Sinn: „Wein trinken an schönen Orten“, und ich ergänze spontan: „guten Wein trinken an schönen Orten“.

Schloss Wartenfels% Lostorf% Kanton Solothurn% Schweiz; urkundlich erstmals erwähnt im 13. Jahrhundert. (Foto: P. Züllig)

Ist es wirklich ein guter Wein, den ich da im Glas habe? Sicher kein schlechter, vielmehr ein gewöhnlicher, ein alltäglicher, ein Landwein eben, wie er so oder ähnlich fast überall zu finden ist. Das Außerordentliche ist der Ort, wo ich ihn trinke; das Außerordentliche ist wohl auch der Rebberg, von dem die Trauben stammen, ein Schlossgarten zu meinen Füßen, und außerordentlich – zumindest nicht alltäglich – sind auch die Rebsorten: Neuzüchtungen, sogenannte PIWIS, die hier – vor etwa 15 Jahren - angebaut wurden: Cabernet Jura, Johanniter und Seyval Blanc. Genügt das für ein außergewöhnliches Weinerlebnis? Oder anders gefragt: Wie muss ein Wein sein, in dieser ganz speziellen Situation?

Blick auf die Rebberge des Schlosses (Foto: P. Züllig)

Ich denke an die Hektik bei der Weinauktion am Tag zuvor, wo die Spitzenweine – die außerordentlichen – mit viel Geld gejagt wurden, während andere, die gewöhnlichen – wie zum Beispiel ein Wein wie dieser hier – unbeachtet blieben, rasch ausgeschieden als zu gewöhnlich, zu alltäglich, das Geld für eine Investition nicht wert. Sind auch die Weine – wie so vieles, ja, fast alles in der Welt – in einfache Kategorien wie „Gewöhnlich“ und „Außergewöhnlich“ einzuteilen? Wenn man ihren Wert an den Preisen misst, an der Skala der Weinbewertung (die sich immer auch im Preis niederschlägt), dann mag das stimmen: Es gibt sie, die Namenlosen und die Berühmten, die Gewöhnlichen und die Besonderen. Ich denke an meinen Weinkeller, an die Besuche von Weinfreunden, an die gestrige Weinauktion, überall dreht sich alles um das Besondere: besonders gut, besonders teuer, besonders selten, besonders wertvoll muss ein Wein sein. Nur dann kann er bestehen, dort, wo Wein zur Kultgröße, zum Prestigeobjekt oder zur Rendite geworden ist.

Auktion der „Weinbörse“ in Zürich (Foto: P. Züllig)

Ja, dieser kleine Wein, aus dem kleinen Rebberg vor dem Schloss, dem erhaltenen Zeugen früherer Macht und Größe, trägt mich mit meinen Gedanken fort, zu Fragen, die weit über den Weinkodex hinaus führen. Wie viel ist das Gewöhnliche wert? Und das Außerordentliche: Wie rasch wird es zum Gewöhnlichen, zum Alltäglichen? Ich schaue ins Tal hinunter, wo die menschlichen Werke und Werte die Natur immer mehr verdrängen: Straßen, Häuser, Fabriken, Werksgebäude, Schienen... mitten drin, alles überragend, scheinbar alles bestimmend, die Anlage eines Atomkraftwerks, mit seiner riesigen Dampfwolke, die unaufhörlich aus dem Turm quillt. Mein Nachbar, mit dem ich auf den wunderschönen Tag anstoße, meint: „Hier könnte ich nicht leben“, und zeigt mit dem Finger auf den Kühlturm.

Wertordnung im 21. Jahrhundert – in der Landschaft weithin sichtbar (Foto: P. Züllig)

Und wieder drehen sich meine Gedanken um die Begriffe: Wert und Bestand. Bestand – zumindest ein paar Jahrhunderte – hatten die Schlossmauern, die für den Besitzer einst wertvoll waren, viel wertvoller jedenfalls als alles, was rundherum von Menschen damals gebaut und geschaffen wurde. Doch die alten Mauern haben nur noch musealen Wert. Das Wertvolle (für die Menschen von heute) ist zum Beispiel der Atomreaktor, der sich mitten in einem ländlichen Wohn- und Lebensraum da unten erhebt, weit größer und dominanter als das Schloss, das eigens zur Repräsentation – Zeuge der damaligen Werte – auf dem Berg erbaut wurde. Meine Gedanken kehren zurück von den „großen Werten“ zu dem „kleinen Wein“ und damit zu allen „kleinen Weinen“, die ich schon getrunken habe und noch trinken werde. Sie dokumentieren und garantieren den Bestand an Weinkultur, als ein Agrarprodukt, das durch die Jahrhunderte zwar verfeinert und veredelt wurde, letztlich aber das gleiche geblieben ist.

„Wartenfelser“% der kleine Wein vom kleinen Schlossgarten (Foto: P. Züllig)

Der Schlossrebberg steht wieder da, nicht viel anders als vor 100 und mehr Jahren. Die Reben bringen Früchte, Trauben hervor, aus denen Wein gemacht wird, nicht viel anders als schon Jahrhunderte zuvor. Wie wertvoll das Produkt – der Wein – ist, bestimmt allein das Wertdenken der Menschen, die meist das Gewöhnliche nicht mehr wahrnehmen und nahezu immer nach dem Außergewöhnlichen jagen. Was geschieht, wenn wir diese Jagd nicht mehr mitmachen, wenn wir das Besondere am Gewöhnlichen wieder erkennen und anerkennen? Wenn wir ihm wieder einen Wert geben? Mein „kleiner Wein“ im Glas ist jetzt getrunken, ich kehre zurück zur materiellen Welt. Der Wein heißt „Wartenfelser“, Jahrgang 2013, Rebsorten Johanniter und Seyval Blanc. Es gibt davon nicht viel mehr als 1.000 Flaschen, vermarktet wird er nur in dieser Gegend und kostet um die 16 Schweizer Franken; Kurzbeschreibung: feines bis kräftiges Bukett, rassig, harmonisch, erinnert an Riesling und Pinot gris. Parkerpunkte: natürlich keine. Fast das Gewöhnliche! In Gedanken bleibe ich aber bei dem Besonderen, bei der Einmaligkeit dieses gewöhnlichen Weins. Ich weiß, dass er schon im 13. Jahrhundert hier angebaut und wohl auch von Wernher von Wartenfels, dem Schlossherrn, getrunken wurde. Es wächst in mir die Überzeugung, dass jeder „kleine Wein“ das Besondere (was das auch immer sein mag) auch in sich trägt und (mehr) Beachtung verdienen würde. Wie sagte es Oscar Wilde: „Im Durchschnittlichen (oder Gewöhnlichen) liegt der Bestand.“

Herzlich
Ihr/Euer

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