Lange schon wird in manchen Weinmedien der Eindruck erweckt, die deutschen Spätburgunder seien an breiter Front längst in der Weltspitze der Rotweine im Allgemeinen und der Pinot Noirs im Besonderen angekommen. Einer genaueren Überprüfung hielt diese Aussage bislang jedoch nie stand. Mit dem Jahrgang 2022 könnte sich das ändern.
Zwar gab es in besonders günstigen Jahren in den vergangenen zwei Jahrzehnten zwar immer wieder einzelne Weine, die das Prädikat “Großer Wein” verdienten, aber sie waren weder die Regel, noch gab es davon nennenswerte Mengen. Zudem waren nur wenige in der Lage, ihre Klasse auch mit längerer Reife durchzuhalten und sich noch dazu über viele Jahre positiv weiterzuentwickeln, wie das den großen Weinen nun einmal eigen sein sollte.
Der Jahrgang 2022 könnte nun endgültig einen Wendepunkt darstellen. Nicht, dass es nicht schon früher nahezu ideale Spätburgunder-Jahre gegeben hätte, doch auf 22 waren die Winzer besser vorbereitet. Oder besser: mehr Produzenten denn je waren darauf vorbereitet.
Seit langer Zeit suchen die engagiertesten Spätburgunder-Winzer Deutschlands nach ihrem Weg. So individuell der jeweils ausgesehen haben mag, dürfte das Ziel doch fast überall das gleiche gewesen sein: Burgundische Klasse zu erreichen, ohne dabei die eigene Herkunft zu verleugnen. Die Annäherung geschah von verschiedenen Seiten, erzeugte Trends und Gegentrends – und jeder davon hatte seine Tücken: Bisweilen wurde zu sehr auf Frische, Schlankheit und Säure fokussiert, was Weine mit zu wenig Substanz, Tiefe und Komplexität, im Ernstfall auch eine gewisse Unreife zur Folge hatte. An anderer Stelle übertrieb man es mit der Reife und erhielt ins Kompottige tendierende, alkoholstarke Pinots, denen es an Finesse und Eleganz mangelte. Natürlich wurde und wird auch versucht, es vor allem im Keller zu richten: gerne mit Holz, oft mit zu viel oder schlicht dem Falschen. Mal wurde die Extraktion übertrieben, mal waren Weine so reduktiv, dass man auch nach Tagen des Probierens nicht sicher sagen konnte, ob dahinter echte Substanz steckte.
Doch nur wer Fehler macht, lernt dazu – und unsere engagierten Winzer hatten viel Zeit, aus ihren Fehlern zu lernen. Und dann kam 2022. So schwierig das Jahr für den Riesling war, die andere deutsche Paradesorte, so großartig konnte der Jahrgang für den Spätburgunder ausfallen. An breiter Front wurden Weine erzeugt, die elegant waren und konzentriert, kraftvoll, aber ohne Schwere, ausdrucksstark, komplex, tief und fein.
Viele Weine des Jahrgangs 2022 von hochklassigen deutschen Burgunder-Produzenten sind noch nicht im Handel. Doch allein unter jenen, die wir bislang probieren konnten, finden sich womöglich mehr großartige und große Pinot Noirs als in jedem Jahrgang zuvor, den wir miterlebt haben. Und mehrere von ihnen sind größer als alles, was uns an deutschem Rotwein je begegnet ist.
Knapp 600 deutsche Spätburgunder Rotweine haben wir in diesem Jahr bislang verkostet, etwa die Hälfte davon aus 2022. Doch wir wollen unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf die 22er konzentrieren. Auch das deutlich kühlere Vorjahr konnte wunderbare, geschliffene, straffe und feine Weine hervorbringen, wenn man mit und nicht gegen den Jahrgang gearbeitet hat. Es sind Weine dabei, die jeden Spätburgunder-Fan begeistern können. Die Jahrgänge 2020 bis 2018, aus denen Vieles ebenfalls erst jetzt auf den Markt kam und kommt, boten für Rotwein ohnehin durchweg gute Bedingungen. Und man kann auch an ihnen oft die Annäherung ans große Ideal schmecken. Das einige Weine inzwischen wirklich erreicht zu haben scheinen.